SN vom 05 07 01
 

Die Gewerkschaft steht mit dem Rücken zur Wand


DER STANDPUNKT



SYLVIA WÖRGETTER

Diverse Sparpakete, Pensionsreformen, das erste turbulente Jahr von Schwarzblau mit Massendemos - all dies ging vorüber, ohne dass der ÖGB als Gesamtorganisation zur Massendemonstration aufgerufen hätte. Heute aber findet genau dies zum ersten Mal seit 1945 statt. Und das nur, weil der Privatangestelltengewerkschafter Hans Sallmutter von der Spitze des Hauptverbandes der Sozialversicherungen weichen muss?

Mitnichten. Der Gewerkschaftsbund hat schwerwiegendere Gründe, auf die Straße zu gehen, als die Demontage eines Mannes, der auch gewerkschaftsintern bisweilen umstritten und nicht immer geliebt ist. Der ÖGB muss den Regierungsentwurf zur Reform des Hauptverbandes vielmehr als ersten Schritt zur Entmachtung der Arbeitnehmer in der Sozialpartnerschaft und im Sozialversicherungssystem verstehen. Lässt er dies kampflos geschehen, dann verliert er nicht nur seine Machtbastion, sondern auch sein Selbstverständnis als die Kraft, die die Sozialgeschichte der Zweiten Republik entscheidend mitgeschrieben hat.

Diesmal stehen einander nicht "Wende-Regierung" und "rote" Gewerkschafter gegen-über; auch die ÖAAB-Basis und die Christgewerkschafter wollen mitmarschieren. Der Konflikt lässt sich nicht auf das einfache Schema Regierung-Opposition beschränken.

Die Arbeitnehmervertreter durften die Sozialversicherungen bislang als ihre Domäne betrachten. Sie taten dies mitunter mit einer Saturiertheit, die sich einstellt, wenn die Legitimität der Macht lange Zeit nicht hinterfragt werden muss. Nun sind sie genau dazu gezwungen.

Denn der Regierungsentwurf stellt erstmals die Vormachtstellung der Arbeitnehmer aller Couleurs in den Sozialversicherungen in Frage, indem er ihnen exakt nur ebenso viele Sitze im künftigen Leitungsgremium des Hauptverbandes zuspricht wie der Wirtschaft. Das Argument dafür ist nicht ganz von der Hand zu weisen: Immerhin teilen sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Sozialversicherungsbeiträ-ge. Auch das Gegenargument des ÖGB hat einiges für sich: Nicht die Arbeitgeber sind nach den Regeln der Selbstverwaltung die "Besitzer" der Sozialversicherungen, sondern die Arbeitnehmer. Außer den Sozialversicherungsanstalten der Bauern und Gewerbetreibenden sind alle anderen solche der Arbeitnehmer - von den Arbeitern und Angestellten bis hin zu den ÖBB-Bediensteten und Beamten. Macht das Hauptverbandsbeispiel Schule, dann müssen die Gewerkschafter auch um "ihre" selbstverwalteten Anstalten fürchten.

Die Selbstverwaltung machten sich bisher ÖGB und Wirtschaft untereinander aus. Nun ist es der FPÖ mit in Aussicht gestelltem Machtzuwachs für die Wirtschaft gelungen, einen Keil zwischen sie zu treiben. Die Arbeitnehmer stehen mit dem Rücken zur Wand.