Artikel http://www.jungewelt.de/2001/07-23/002.shtml
Startseite junge Welt Kommentar ________________________________________________________
23.07.2001
Die Gewaltfrage
Italienische Polizei setzte auf Eskalation _________________________________________________________________
Polizei gegen Schwarzen Block - ein Kampf der Unversöhnlichen? Ein Kampf bis aufs Messer zwischen »Ordnungshütern« und solchen, die jegliche Form staatlicher Ordnung zerstören wollen? Die Bilder der Straßenschlacht von Genua vermitteln exakt diesen Eindruck. Der Protest gegen die Globalisierung, der an die 200 000 Menschen in der Stadt an der ligurischen Küste zusammenführte, erscheint als nebensächlicher Anlaß einer Schlacht, in der die nihilistische Anarchie die gesellschaftliche Ordnung herausfordert.
Doch es gibt auch andere Bilder. Bilder, die die Öffentlichkeit meist nicht erreichen. Bilder zum Beispiel, deren Aussendung die italienische Polizei verhindern wollte, als sie eine Schule stürmte, in der das Pressezentrum des Genoa Social Forum, der Dachorganisation der Globalisierungsgegner, eingerichtet war, um belastendes Filmmaterial zu beschlagnahmen. Nach Aussagen von GSF- Vertretern soll es sich um eine Dokumentation handeln, die beweist, daß Polizeiagenten den Schwarzen Block infiltriert haben. Demnach war es nicht der vielzitierte »gewalttätige Kern« der Demonstranten, der die Lage eskalieren ließ, sondern die Polizei selbst, um eine Situation zu schaffen, in der sie als »bedrängte Unschuld« zur Gegenoffensive »verpflichtet« scheint. Das wirft freilich auch die Frage nach der Zweckmäßigkeit autonomen Widerstandes auf. Der Straßenkämpfer, der zum Stein greift, müßte sie sich - nach vielen einschlägigen Erfahrungen - eigentlich längst selbst gestellt haben. Nämlich, ob sein Stein nicht die gleiche Wirkung hat wie der von Polizeihand geschleuderte. Ob also diese Form gewaltsamen Widerstandes nicht durchaus systemimmanent ist.
Das ist keine pazifistische Fragestellung. Gewalt ist ein objektives gesellschaftliches Verhältnis. Lohnarbeit beruht auf Gewalt, die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit bedeutet Gewalt. Die Globalisierung ist ein Gewaltakt gegen das Gros der Weltbevölkerung. Der Neoliberalismus hat eine soziale Regression bewirkt, die sich auch als Regression im sozialen Bewußtsein widerspiegelt. Im Kampf gegen die Globalisierung, gegen das Diktat der Kapitalströme aber ist neues Bewußtsein entstanden. Der gegen das globale Prinzip der Profitmaximierung gerichtete Antiglobalismus ist auch eine neue Form des Internationalismus. Die Bewegung gegen die Globalisierung knüpft, mehr oder weniger bewußt, an der historischen Rolle der Arbeiterbewegung an, die aus diesem Konfliktfeld neu hervorgehen könnte - auf einem höheren, den modernen Produktivkräften entsprechenden Niveau.
Das aber erfordert Zähigkeit, Ausdauer und Geduld. Ein voluntaristisches Pro oder Contra Gewalt trifft das Problem nicht. Durch massiven Demokratieabbau wird die Gewaltfrage zur Zeit von der neoliberalen Bourgeoisie gestellt. Sie adäquat zu beantworten - auf dem Niveau der die Massen ergreifenden materiellen Gewalt - wird schwierig werden.
Werner Pirker
Artikel per Mail versenden
© junge Welt
--
Diese Liste wird vom Computer Communications Club (http://www.ccc.at) betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im Nachrichtentext.