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24.07.2001
Geplanter Überfall auf Gipfelgegner in Genua?
jW sprach mit Andrea Plöger _________________________________________________________________
(Die Journalistin war in Genua für junge Welt vor Ort. Eine zweite, offiziell akkreditierte Kollegin, Kirsten Wagenschein, wurde bei dem Sturm auf das Pressezentrum festgenommen. Von ihrem Verbleib ist der Redaktion nach wie vor nichts bekannt)
F: Die letzte große Polizeiaktion in Genua war der Sturm auf das Lagezentrum des Sozialgipfels Sonntag früh. Wie ging die Polizei bei der Aktion vor?
Am frühen Morgen fuhren plötzlich Gruppenwagen vor, Polizisten stürmten heraus, richtig aggressiv mit Schreien. Sie riefen »Wir kriegen euch alle« und »Jetzt seid ihr dran«. Ein britischer Journalist, der sich nicht mehr ins Gebäude retten konnte, wurde brutal zusammengeschlagen. Als er unter den Schlägen auf dem Boden zusammengesunken war, wurde er von anderen Polizisten wieder hochgezogen und erneut zusammengeschlagen.
F: Nach Polizeiangaben wurde nach Waffen gesucht. Standen noch andere Dinge im Visier der Beamten?
Das war ein Überfall, der, was sich aus dem gezielten Vorgehen schließen läßt, mit oberen Dienststellen abgesprochen war. Bei der Aktion ist im Kongreßbüro der Agentur Indymedia eine Videokassette gestohlen worden, auf der ausführlich Übergriffe dokumentiert waren. Die Einheiten hatten eine Genehmigung für die Durchsuchung eines Schulgebäudes, in dem Angereiste übernachteten. Etwa 20 konnten entkommen. Von den 60 Festgenommenen wurden etwa 50 ins Krankenhaus eingeliefert, was die Brutalität des Einsatzes verdeutlicht. Sie haben zum Teil gefährliche Schädelverletzungen, einer liegt im Koma und schwebt in Lebensgefahr.
F: Aber auch das zweite, gegenüberliegende Gebäude mit dem Lagezentrum des Sozialgipfels stand im Visier der Sicherheitskräfte?
Sie haben die Tür aufgetreten und sind in die Büroräume gestürmt. Sie hatten sich aber zum Glück schon etwas beruhigt. Wir mußten uns mit den Händen an die Wand lehnen. Leute, deren Handy klingelte und die abhoben, wurden abgeführt. Es war eine unbeschreibliche Atmosphäre von Angst und Terror, weil wir die Polizisten überhaupt nicht einschätzen konnten. Glücklicherweise wurden die Einheiten von einer anwesenden italienischen Parlamentsabgeordneten zur Räson gebracht.
F: Kann man von einem gezielten Schlag gegen den Sozialgipfel und unabhängig organisierte Mediendienste sprechen?
Unbestritten, denn nicht nur die Zentrale von Indymedia, auch das Büro der Anwälte des Sozialforums wurde durchsucht und teilweise verwüstet. Material wurde aus allen Räumen beschlagnahmt. Man kann durchaus von einer gezielten Aktion sprechen.
F: Welches Material wurde denn beschlagnahmt?
Das erwähnte Videomaterial und eine Reihe von Festplatten mit Dokumenten. Waffen wurden nicht gefunden, nur Gasmasken und Helme, die jeder Journalist bei diesen Demos benutzt hat. Es schien, als sollte im nachhinein eine Rechtfertigung für das brutale Vorgehen ausgemacht werden.
F: Wie viele Leute wurden inhaftiert?
Etwa 60 Leute aus dem gegenüberliegenden Schulgebäude. Wir konnten beobachten, wie der Großteil von ihnen auf Tragen herausgeschafft wurde. Uns liegen wenige Informationen vor. Einer hat aus dem Krankenhaus angerufen, das Gespräch wurde aber unterbrochen. Von den Leuten im Gefängnis gibt es unterschiedliche Informationen. Es hieß, daß sie nach Alexandria oder in andere Orte gebracht worden seien. Insgesamt sind es einige hundert Verhaftete.
F: Wie hat sich die deutsche Botschaft verhalten?
Wir haben noch Sonntag früh in der Botschaft angerufen. Der Konsul erklärte, daß keine Meldung von Festgenommenen vorliege. Sonst würde er immer benachrichtigt. Er erklärte sich deswegen für nicht zuständig. Auch als wir ihm schilderten, daß Leute vermißt werden, reagierte er mit Desinteresse. Mittlerweile kam die Meldung, daß dem Auswärtigen Amt anscheinend doch Listen vorliegen, denn Angehörige sind inzwischen selbst von den Landeskriminalämtern kontaktiert worden.
Interview: Harald Neuber
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