S.g. Koll. Adam
Wir sind uns wahrscheinlich darin einig, dass Vergleichen heißt, Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen. Ich finde, dass derjenige Geschichte missbraucht, der einseitig unterstellt, dass es nur Gemeinsamkeiten und keinerlei Unterschiede gibt. Solche Anschauungen stellen sich nämlich bei näherer Betrachtungsweise als falsch heraus, weil sich Geschichte einfach nicht wiederholt. Wenn Sie allerdings im Vergleich an sich einen Missbrauch vermuten und dies zu einem chaotischen Anschwellen der Lockenpracht führt, dann ignorieren Sie die Möglichkeit aus Geschichte Lehren zu ziehen und mithin die Sinnhaftigkeit, dass wir uns mit Vergangenheit beschäftigen.
Ich finde den Vergleich durchaus überlegenswert, denn ich
kann durchaus einige Gemeinsamkeiten erkennen. Die
Tatsache, dass es sich hierbei in beiden Fällen um Groß- Demonstrationen handelt, springt ins Auge. Weiters ist da wie dort ein gewisses Maß an Gewaltbereitschaft zu erkennen. Als der Justizpalast brannte, war die Reaktion der über die schreiende Ungerechtigkeit der Klassenjustiz erbosten Massen, dass vermutlich bei vielen zumindest stille Freude aufkam, als das Symbol eben dieser Klassenjustiz, der Justizpalast, brannte. Die verständliche, aber falsche Reaktion der Demonstrationsteilnehmer war es, dass die Löschfahrzeuge der Feuerwehr nicht durchgelassen wurden, was wiederum zum Einsatz von Berittenen und danach zum Schießbefehl und somit zu den Toten und Verwundeten geführt hat. Was vielleicht nicht allzu bekannt ist, ist, dass Spitzenfunktionäre der Sozial- demokratie und Ordner des Republikanischen Schutzbundes auf Trittbrettern der Feuerwehr-Einsatzfahrzeuge mitgefahren sind und die Massen zum "Platz machen" aufgefordert haben, doch all diese Bemühungen haben trotzdem den brutalen Polizeieinsatz nicht verhindern können, es wurde auch in keiner Weise bedankt, sondern nur als ein Zurückweichen, als Schwäche oder Opportunismus ausgelegt.
Ein wesentlicher Unterschied zum Juli 1927 ist der, dass die Teilnehmer an der Großdemonstration von Genua, weil sie zum Teil von weither angereist sind, weil sie aus sehr vielen und sehr unterschiedlichen Organisationen kommen und von daher einander wesentlich weniger gut kennen als die Arbeiter von Wien und Umgebung. Von daher gibt es auch in solchen Demonstrationen kaum wirklich Autoritäten, die die Bewegung der Massen einigermaßen lenken können. Diese Zersplitterung der Bewegung in viele kleine Gruppen, die untereinander zwar vernetzt sind, aber einander nicht wirklich kennen, von denen vielleicht auch weitgehend unbekannt ist, inwieweit sie alle zusammen wirklich in die gleiche Richtung vorankommen wollen, in dieser Situation ist politisches Handeln ungleich schwieriger. Wenn die Polizei (wie im SPIEGEL unterstellt) die Situation ausnützt und provozierende Akteure in diese Bewegung einschleust, dann kann die Sache unkontrollierbare und unberechenbare Ausmaße annehmen.
Meine Lehre daraus: eine sehr fragwürdige Polizeitaktik kann
zu einer verstärkt konspirativen statt politisch offenen Tätigkeit politischer Gruppen führen. Und das ist nicht im Sinne unserer Demokratie.
mfG
Günter Wittek
----- Original Message -----
From: Hans Adam
To: mag. markus grass ; Josef Zwickl
Cc: LF Lehrerforum
Sent: Thursday, July 26, 2001 10:21 PM
Subject: LF: Re: 15. Juli 1927 bis 21. Juli 2001
Gibt es eigentlich noch haarsträubendere Vergleiche (Brand des
Juistizpalastes) um die Genua-Verschwörungstheorie zu untermauern? Wie weit kann man die Geschichte noch missbrauchen?
Hans Adam
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