Profil 29 07 01
Oben sticht unten
Schule. Wer ins Gymnasium darf und wer in die Hauptschule gehen soll, ist vor allem eine ideologische Debatte. Die Eltern und der Arbeitsmarkt haben ihre eigene Logik. Von Edith Meinhart und Adelheid Wölfl
Während heimische Spitzenpolitiker an griechischen Stränden ausspannen, in Südseewässern schippern oder in abgelegenen Klöstern in sich gehen, nützen andere die großen Ferien für ein paar Fleißaufgaben: Mitten in der sommerlichen Nachrichtenflaute präsentierten die Bildungssprecher von ÖVP und FPÖ, Werner Amon und Karl Schweitzer, vergangene Woche ein Modell, mit dem die Leistungen der Taferlklässler überprüft werden sollten. Doch statt einem erwarteten römischen Einser kassierten die beiden Tadel von höchster Ebene.
Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer rief ihre Adepten zur Ordnung: An eine Wiedereinführung der 1982 abgeschafften Aufnahmetests für Gymnasien sei nicht gedacht. Nicht genügend, setzen.
Die Ressortchefin sprach fortan von "freiwilliger Leistungsüberprüfung" statt flächendeckender "Aufnahmeverfahren", von "Hilfestellung bei der Auswahl der Schule" statt Zugangsbeschränkungen.
Von der Ursprungsidee, eine Hürde vor dem Eintritt ins Gymnasium zu errichten, um den "Zustrom zu den AHS zu bremsen" (Amon), war bald nichts mehr übrig.
Amon, mit einer Mischung aus Gehorsam und Trotz: "Wenn die Frau Bildungsministerin das so sagt, dann ist das so. Da sticht oben unten."
Dabei hätte das schwarz-blaue Bildungsduo noch ein paar Vorschläge im Köcher. Amon denkt an eine "stichprobenartige Leistungsüberprüfung" am Ende der Hauptschule. Schweitzer kann sich vorstellen, eine "mittlere Reife" einzuführen. Als Zukunftsmodell schwebt ihm ein Bildungskonto vor. Jene Schulen, die in einem Ranking besser abschneiden, sollen mit finanziellen Mitteln belohnt werden.
Schweitzer und Amon entfachten mit ihren Vorschlägen eine jahrzehntealte Diskussion neu, die quer durch Europa zwar zu heftigen Kontroversen, aber in keinem anderen Land zu so erbitterten ideologischen Gefechten führte wie in Österreich.
Lagerbildung
Die "ausgeprägten Lagerbildung" und die "ständische Struktur" des heimischen Schulwesens sind nach Ansicht des Wiener Erziehungswissenschafters Karl Heinz Gruber selbst durch "Vernunft und Sachverstand schwer zu überwinden".
Im Kern geht es um die immer gleiche Frage: Sollen Schüler ab dem zehnten Lebensjahr in Leistungsfähigere und weniger Begabte unterteilt werden - oder nicht?
Internationale Befunde zeigen, dass eine frühe Selektion Mittelschicht- gegenüber Unterschichtkindern bevorzugt. Davon abgesehen stellen sich methodische Probleme. "Mit zehn ist ein Kind ein Kind", sagt der Wiener Professor für Erziehungswissenschaften Richard Olechowski: "Mit achtzehn sind das Erwachsene. Die Entwicklung dazwischen kann kein Test der Welt vorhersagen."
Während im restlichen Europa deshalb eine gemeinsame Mittelschule längst die Regel ist - 1962 führten sowohl das christdemokratisch regierte Italien als auch das sozialdemokratisch regierte Schweden in der Sekundarstufe I eine Gesamtschule ein - kam die bildungspolitische Diskussion in Österreich kaum vom Fleck.
Die von Fred Sinowatz Ende der siebziger Jahre propagierte integrierte Gesamtschule (IGS) scheiterte am Widerstand der ÖVP. Änderungen im Schulorganisationsgesetz (SchulOGI) brauchen seit 1962 eine Zweidrittelmehrheit, und die Konservativen betrachteten die AHS seit jeher als Auslese- und Hochbegabten-Anstalt.
30 Jahre später warf der rote Stadtschulratspräsident Kurt Scholz das Handtuch. In einem Interview mit der Tageszeitung "Die Presse" bekannte der SP-Mann entnervt, er habe die Diskussion über die Gesamtschule satt: "Das ist nur noch ein Kampf um Etiketten und Wörter." Seine Nachfolgerin, Susanne Brandsteidl, bezeichnete die Gesamtschule vor wenigen Wochen gar als "anachronistisch".
Die Begriffe wechseln, die Debatte ist die alte. Faktum ist, dass der Run auf die allgemein bildenden höheren Schulen (AHS) ungebrochen ist. Besonders krass ist die Situation in Wien: Anfang der sechziger Jahre betrug das Verhältnis zwischen Hauptschülern und Gymnasiasten noch zwei zu eins. Im Schuljahr 1986/87 trat erstmals mehr als die Hälfte der Schüler nach der vierten Volksschulklasse in eine AHS ein.
Wobei die Schülerströme je nach Bundesland stark variieren: Während es ausgewählte Wiener Nobelbezirke auf eine AHS-Quote von 80 Prozent bringen, tritt in ländlichen Gebieten gerade einmal jedes dritte Kind in ein Gymnasium über. Doch auch hier ist der Zug der Zeit unverkennbar. Walter Riegler, Chef der Pflichtschullehrergewerkschaft: "Wo immer eine AHS angesiedelt wird, werden die Kinder regelrecht weggesaugt."
Hauptschulen, so fürchtet das schwarz-blaue Lager, verkommen zum Auffanglager für gescheiterte Existenzen. Stellvertretend für seine Gesinnungsgenossen fordert der Kärntner Landesschulratspräsident Heiner Zechmann (FPÖ) daher, "alles zu tun, um die Hauptschule zu retten".
Warum eigentlich? Laut einer Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts benötigt die Wirtschaft bis 2005 etwa 27.000 zusätzliche Arbeitskräfte pro Jahr. Die größten Lücken, so Arbeitsmarktforscher Ewald Walterskirchen, gibt es im mittel- und hochqualifizierten Bereich: "In Zukunft scheint es deshalb eher das Problem zu sein, wie es uns gelingt, Minderbegabte oder weniger Qualifizierte zu möglichst hohen Abschlüssen zu bringen."
Der grüne Bildungssprecher Dieter Brosz vermutet hinter der aufgeflammten Diskussion denn auch eher budgetäre als bildungspolitische Motive: Die aktuelle - durch den Geburtenrückgang verschärfte - Entwicklung führe dazu, dass immer mehr Hauptschullehrer künftig vor leeren Sesselreihen sitzen. "Die sollen beschäftigt werden", glaubt Brosz, "neue AHS-Lehrer verursachen zusätzliche Kosten."
Der von roten und grünen Politikern favorisierte Gegenvorschlag: Die Mittelstufe solle zusammengelegt werden. In Graz ist dieses Modell längst Realität. 1991 schlossen sich dort fünf Schulen zum Schulverbund Graz-West zusammen, in dem eine gemeinsame Erziehung bis zum 14. Lebensjahr stattfindet. Ein ähnliches Modell wurde im Herbst 1999 unter dem Titel "Kooperative Mittelschule" im Wiener Stadtschulrat beschlossen.
Der Markt spricht
"Wenn es unterschiedlich attraktive Produkte gibt, können wir das eine Produkt unattraktiver machen oder das andere attraktiver. Ich plädiere für Letzteres", sagt Heinz Gruber, Sektionschef im Bildungsministerium. Anders
ausgedrückt: Weil alle Eltern für ihre Kinder das Beste, also das Gymnasium wollen, sollen sich die Hauptschulen gefälligst anstrengen, um in der Konkurrenz bestehen zu können.
"Das passiert ohnedies", sagt Grubers Namensvetter, der Erziehungswissenschafter Karl Heinz Gruber: "Viele Hauptschullehrer leisten Unglaubliches. Aber die arbeiten alle bergauf."
Das letzte Wort spreche immer noch der Markt. Und dessen Votum fällt ebenfalls eindeutig aus: 1,6 Milliarden Schilling geben österreichische Eltern jedes Jahr für Nachhilfe aus, um ihrem Nachwuchs zu einem möglichst hohen Bildungsabschluss zu verhelfen.
Kein Wunder, hält man sich die Gesetze des Arbeitsmarktes vor Augen. Karl Heinz Gruber: "Wenn sich zwei 15-jährige bewerben, wird der aus einer mittelmäßigen AHS immer noch eher genommen als der Absolvent einer noch so guten Hauptschule."
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