S.g. Kollege Wittek!
1. Ich habe mich bei einem Juristen kundig gemacht - über die aktuelle Rechtslage (über die 1. Republik wußte der auch nicht Bescheid, ich denke aber, es wird nicht viel anders gewesen sein): Das von Ihnen angesprochene Schöffenverfahren besteht, wie Sie schreiben, aus zwei Schöffen und zwei Richtern; bei Stimmengleichheit erfolgt aber ein Freispruch ("im Zweifel für den Angeklagten") - es gibt kein Dirimierungsrecht des Vorsitzenden! Das Schöffenverfahren gilt allerdings für "mittelschwere" Kriminalität und ist daher für Schattendorf gar nicht relevant. Für Kapitalverbrechen gibt es den Geschworenenprozeß mit acht Geschworenen und drei Richtern. Die Geschworenen entscheiden alleine über Schuld und Unschuld - und nur bei einem Schuldspruch entscheiden alle elf gemeinsam über das Strafausmaß.
2. Ihre Argumente zur Verteidigung des Begriffes "Klassenjustiz" kann ich nicht nachvollziehen. Daß der Ausdruck damals (aus Unkenntnis des Sachverhaltes und vorauseilendem Mißtrauen) verwendet wurde und daß viele daran geglaubt haben, ist doch kein sachliches Fundament! Irgendwie erinnert mich das an die These, unsere Sozis hätten bei den EU-Sanktionen Österreich vernadert. Das hat a) sogar die Kronenzeitung geschrieben und b) zuzutrauen ist den roten Brüdern sowieso alles Schlechte! (Der letzte Satz ist ironisch gemeint - im LF muß man das dazusagen, wie ich gelernt habe!)
MfG Erich Wallner
Günter Wittek schrieb:
>
> S.g. Koll. Wallner!
>
> Ich kann nur zum Teil ihren Ausführungen zustimmen oder sie nach
> meinem Wissensstand (ohne Recherche) bestätigen.
>
> Es war Viktor Adler, der beim Hainfelder Einigungsparteitag den
> Vorschlag einbrachte programmatisch festzuhalten, die Sozialdemokratie
> möge sich in ihrer Politik in der Gesetzgebung wie auch in der Rechts-
> sprechung am "natürlichen Rechtsempfinden des Volkes" orientieren. Es
> ging darum, dass die Arbeiter weitaus weniger gebildet waren als die
> Bürger, daher war die Überlegung, dass man den Arbeitern auf diese
> Weise Rechtsgrundsätze besser verständlich machen könne. Die andere
> Sache ist die "Mitwirkung des Volkes" an der Rechtssprechung. Doch die
> Schöffen haben niemals alleine das Sagen. Einem Schöffensenat gehören
> zwei Schöffen (Laienrichter) und zwei Berufsrichtern an, wobei einer
> der Berufsrichter den Vorsitz führt. Bei Stimmengleichheit zählt die
> Stimme des Vorsitzenden.
>
> Ich gebe Ihnen recht, dass blindes Vertrauen in Laienrichter nicht
> angebracht ist, dass Schöffen - nicht nur im Falle von LH Wagner - oft
> auch recht eigenartige Urteile zustandebringen.
>
> Den Ausdruck "Klassenjustiz" finde ich nicht schlecht, nicht nur weil
> er damals immer wieder verwendet wurde, sondern auch deswegen
> zutreffend, weil die sozialdemokratischen Arbeiter und die vielen
> ebenfalls demonstrierenden Arbeitslosen der Meinung waren, dass das
> Urteil ganz anders ausgefallen wäre, wenn Täter und Opfer jeweils der
> andern Gruppe angehört hätten.
>
> Heute ist es vielmehr wichtig, die Unabhängigkeit der Gerichte und der
> Rechtssprechung zu erhalten und sie vor politischer Einflußnahme zu
> bewahren. Die Rechtssprechung in einer sich entwickelnden Zivil-
> gesellschaft wird wesentlich anders aussehen müssen als unser
> bisheriges, vom bürgerlichen Recht her abgeleitetes Rechtssystem.
>
> mkG
> Günter Wittek
>
> ----- Original Message -----
> From: Erich Wallner
> To: LF Lehrerforum
> Sent: Monday, July 30, 2001 10:59 PM
> Subject: Re: LF: Re: Re: 15. Juli 1927 bis 21. Juli 2001
>
> S.g. Kollege Wittek!
>
> Im Zusammenhang mit dem Justizpalastbrand schreiben Sie von der
> "Reaktion der über die schreiende Ungerechtigkeit der Klassenjustiz
> erbosten Massen". Mein Wissenstand ist folgender: In der 1. Republik
> wurde AUF BETREIBEN DER SOZIALISTEN das Schöffenverfahren vor Gericht
> neu eingeführt, weil sie die Rechtssprechung in die Hand des Volkes
> legen wollten. Die Mörder von Schattendorf wurden nicht von einem oder
> mehreren Richtern freigesprochen, sondern von Geschworenen - also
> genau das Gegenteil von der von Ihnen behaupteten Klassenjustiz. Weil
> man damals offenbar naiv an die Weisheit des gesunden Volksempfindens
> glaubte, gab es in der 1. Republik NICHT die Möglichkeit, die es heute
> bei uns gibt, daß nämlich der Richter ein offensichtliches Fehlurteil
> der Geschworenen aussetzen kann. So etwas kommt heutzutage selten vor,
> ich erinnere mich aber an das Schußattentat auf einen Kärnter
> Landeshauptmann (dessen Namen mir entfallen ist) vor 10 oder 15
> Jahren, wo der Täter in Kärnten von den Geschworenen freigesprochen
> wurde und erst (nach Aussetzung des Urteils durch den Richter) in
> einer zweiten Verhandlung in einem anderen Bundesland verurteilt
> wurde. Die These von der Klassenjustiz im Fall Schattendorf hält sich
> hartnäckig - in Wirklichkeit ist es ein Treppenwitz der Geschichte,
> daß die Sozis hier in eine von ihnen selber gegrabene Grube gefallen
> sind.
>
> Erich Wallner
>
> --
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> betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein
> e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im
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