PRESSE 03 08 01
Genua - trotzdem ein Erfolg
Quergeschrieben: Der "Presse"-Kommentar von außen VON BARBARA COUDENHOVE-Kalergi
Zwei Wochen nach dem Gipfel von Genua mit seinen Straßenschlachten und dem toten Demonstranten kann man ein Resümee ziehen. Wer die zahllosen Reaktionen, Kommentare und Analysen Revue passieren läßt, kommt zu dem einigermaßen überraschenden Schluß: Genua war ein Erfolg.
Den sogenannten Globalisierungsgegnern ist es - trotz der Randalierer von den unseligen Schwarzen Blocks - gelungen, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen wie noch nie. Spätestens ab jetzt stehen diese Anliegen nicht nur auf der Tagesordnung von Protestgruppen und Alternativzirkeln, sondern auch auf der Tagesordnung der Staatskanzleien und der internationalen Wirtschaftsorganisationen.
Globalisierungsgegner ist übrigens ein irreführender Begriff. Die überwältigende Mehrheit derjenigen, die gegen die Exzesse des ungebremsten globalen Kapitalismus Stellung beziehen, sieht keine nationalen Lösungen für die Probleme, sondern internationale. Und natürlich sind die Protestler selbst auf das Perfekteste global vernetzt. Soziologen sagen: Diese Bewegung ist die erste große internationale Jugendbewegung seit 1968.
Freilich, neben den Parallelen gibt es auch Unterschiede. Den wesentlichsten benennt "Der Spiegel" so: Den Protest der 68er symbolisierte das Ausrufungszeichen, den Protest der 2001er das Fragezeichen. Diese Jungen, die bisher keine allgemein anerkannte Führungsfigur hervorgebracht haben, wissen keine Antworten, aber sie stellen Fragen.
Ist es in Ordnung, fragen sie zum Beispiel, daß das reichste Fünftel der Menschheit 86 Prozent des Welteinkommens hat und das ärmste Fünftel 1,3 Prozent und daß sich diese Kluft stetig vergrößert? Ist es in Ordnung, daß die globalen Riesenkonzerne Billionen von Dollars in Steueroasen anlegen, ohne daß die gewählten Regierungen dagegen etwas tun können?
Sicher, niemand bestreitet, daß der freie Markt und die globale Wirtschaft auch den Armen und den Entwicklungsländern etwas gebracht und Kriege verhindert haben. Aber niemand bestreitet auch, daß Fragen nach der Gerechtigkeit der Güterverteilung in der Welt ihre Berechtigung haben. Das gilt auch für die Adressaten des Protests.
"Um diese Probleme zu lösen, sind wir da", riefen die Teilnehmer des Gipfels von Genua den Protestlern zu. Die "extremen Ungleichgewichte in der Verteilung der Wohlfahrtsgewinne werden mehr und mehr zu einer Belastung der politischen und sozialen Stabilität", sagte niemand Geringerer als der Chef des Internationalen Währungsfonds. Und ausgerechnet George Soros, der König der Finanzmärkte, plädiert seit Jahren für eine stärkere Kontrolle eben dieser Finanzmärkte durch die Politik. Die Staatsmänner und Wirtschaftsstrategen kennen das Problem. Aber wirklich wirksame Lösungen haben sie bisher nicht zustandegebracht. Viel spricht dafür, daß die Protestbewegung der ungeduldigen Jungen ihren Bemühungen den dringend nötigen Schub gegeben hat.
Auch hier könnte es eine Parallele zu 1968 geben. Auch damals waren viele Forderungen der demonstrierenden Studenten überspitzt und utopisch, auch damals gab es Gewalttäter, Chaoten und Spinner unter den Protestlern. Aber die Bewegung war eine Antwort auf real existierende Defizite der damaligen Gesellschaft. Zur Revolution kam es nicht, wohl aber zu weitreichenden Reformen.
Wenn die Geschichte eine Lehrmeisterin ist, dann kann man davon ausgehen, daß wir heute etwas Ähnliches erleben. Durchaus möglich, daß Genua 2001 einmal als Markstein für Reformen in den Spielregeln der Weltwirtschaft gelten wird wie Paris 1968 für die Reform der Universitäten.
Die Autorin war Redakteurin bei der "Presse", der "AZ" und Ostkorrespondentin beim ORF.