Lieber Kollege Friebel
Ich möchte mich ihren Ausführungen recht deutlich anschließen. Denn ich erachte es für wichtig, dass Schüler wissen, was ich mir erwarte, aber in der Umsetzung muss doch ausreichend Gestaltungs-Spielraum gewahrt werden. Ein Notenschlüssel in Deutsch bedeutet keinen Fortschritt und nicht mehr Gerechtigkeit, sondern wäre eine Zwangsjacke, die Originalität, Kreativität und Vitalität der Schüler in bedenklicher Weise einengen könnte.
Wenn wir die "Verordnung" konsequent weiterdenken, so könnten doch Schriftsteller logischerweise mit Berechtigung fordern, dass Veranstalter von Literatur-Wettbewerben bis hin zur Vergabe des Literatur-Nobelpreises VORHER festlegen sollten, nach welchen Kriterien sie in diesem Jahr ihre Entscheidung zu treffen beabsichtigen.
Womit meines Erachtens klar ist, wie absurd das Ansinnen ist. Aber leider ist dies nicht die einzige "nicht ausreichend durchdachte" Anforderung an uns in unserem viel gelobten Obrigkeitsstaat. Wir sollten viel mehr tun, um dieses Untertanendenken in uns abzubauen (auch im Sinne von mehr "politischer Bildung"), zu unseren Gefühlen zu stehen, emotionale Bewertungen zulassen, wenn wir sehen, dass Schüler ihre Arbeiten mit viel Anteilnahme und Interesse schreiben, und endlich einmal die vordergründig "objektiven" Beurteilungskriterien (Rechtschreibung) im Hintergrund belassen. Ich bin stolz darauf, dass es bei mir immer wieder auch schwer legasthene SchülerInnen schaffen, dass sie es trotz ihres Handicaps zu "sehr guten" Beurteilungen bringen, und keineswegs deswegen die Freude am D-Unterricht verlieren.
Ich kann aus meiner persönlichen Erfahrung nur sagen, dass SchülerInnen diese Haltung schätzen, und ich habe seit vielen Jahren (seit ich diese Einstellung immer mehr ausgebaut habe) auch überhaupt keine Diskussion mehr über angeblich "ungerechte" Noten.
Günter Wittek
----- Original Message -----
From: Peter Friebel
To: Lehrerforum
Subject: Re: LF: Notenschlüssel für Englisch-Schularbeiten
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erlauben Sie mir bitte, mich als Mathematik-Lehrer in die Diskussion über einen Punkteschlüssel für Englisch einzumischen:
Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass man die Leistung eines Schülers nur in Punkten, also auf einer eindimensionalen Skala, ausdrücken müsste, und die Beurteilung würde automatisch gerechter. Dazu ist die Leistung eines Schülers viel zu komplex.
In Mathematik hat es sich zwar bewährt, einen Punkteschlüssel anzuwenden. Mathematiker zählen bei der Punktevergabe aber auch nicht einfach nur die Fehler oder die Anzahl der richtigen Umformungen. Viele Mathematiker vergeben Punkte danach, inwieweit das Erreichen bestimmter Lernziele erkennbar ist. Dabei sind nicht alle Lernziele gleich viele Punkte wert, sondern sie werden danach gewichtet, für wie wichtig sie der Lehrer hält.
Mathematiker haben meistens kein Problem, im Vorhinein anzugeben, wie viele Punkte ein Beispiel wert ist und für wie viele Punkte welche Note herauskommt. Aber wie viele Punkte man bekommt, wenn man eine Aufgabe nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch bearbeitet hat, wird dabei nicht im Vorhinein festgelegt, erfordert viele Überlegungen und ist daher immer subjektiv. Die Leistung des Schülers in Punkten zu messen, macht also die Beurteilung nicht wirklich objektiv, es erweckt nur den Anschein der Objektivität. Trotzdem hat es sich in Mathematik bewährt, ein solches Punkteschema zu verwenden.
Es ist für mich aber nicht einsichtig, warum man versuchen sollte, in allen Unterrichtsgegenständen alles in Punkten auszudrücken, obwohl man offensichtlich Probleme beim "Hineinquetschen" ins Punkteschema hat - wie verschiedene Stellungnahmen in der vorangegangenen Diskussion zeigen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass der Mathematik der Ruf der Objektivität in so hohem Maß vorauseilt, dass man etwas, was man in ein (oft ungeeignetes, weil zu einfaches) mathematisches Modell gezwängt hat, automatisch für objektiv und gerecht hält.
Besonders ärgern mich Formulierungen wie "mathematisch gesehen müsste ja 50% Sprachrichtigkeit genügen", falls damit gemeint sein sollte, mathematisch gesehen müsste es genügen, wenn nur jeder zweite Satz verkorkst ist. Wenn ich in Mathematik bei 50% der Punkte ein Genügend gebe, ist damit ja auch nicht gemeint, dass jede zweite Umformung falsch sein darf.
Viele Grüße
Peter Friebel
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