ZEIT 12 10 01
Das Herz der Erziehung
Brauchen Kinder Grenzen? Oder doch eher Leute, die ihnen helfen, Grenzen zu überwinden? Drei Bücher für besorgte Eltern
Von Barbara Sichtermann
Was ist eigentlich "Individualisierung"? Ein umständliches, ein viel zu langes Wort. Gleichwohl die Signatur unserer Zeit. Jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden, soll seine Anlagen entwickeln, seine Wahl treffen, seinen Weg machen. Die alten Bindekräfte Tradition, Religion, Familie zerfallen. Das Individuum ist in die Freiheit entlassen. Was heißt das für die Erziehung? Mit dieser großen Frage schlägt sich jetzt im Herbst gleich eine ganze Reihe von Sachbüchern herum. (...)
Grenzen finden Kinder zur Genüge vor. Die braucht ihnen niemand eigens zu setzen. Wenn Eltern eine vordringliche Aufgabe haben, dann die, ihren Kindern dabei zu helfen, Grenzen, die inneren und äußeren, zu überwinden. Darin vor allem läge ihre Stärke. Die "starken Eltern", die Susanne Gaschke vermisst, waren ja früher (vor 68) nur deshalb stark, weil sie die Gewalt auf ihrer Seite hatten. Es gibt heute mit Sicherheit nicht mehr schwache Eltern als einst - man sieht sie nur deutlicher, weil der Rohrstock abgeschafft ist. (...)
Jede Epoche erzeugt ihre eigene Eltern-Kinder-Spannung; dem ausgehenden 20. Jahrhundert gebührt das Verdienst, im Verhältnis zwischen den Generationen die Gewalt zugunsten der Diplomatie zurückgedrängt zu haben. Hinter diese Leistung sollte niemand zurückwollen, auch nicht um so hehrer Ideale willen wie Disziplin und Benimm. Kinder werden immer Struwwelpeters, Zappelphilipps und Daumen lutschende Konrads bleiben. Die Mütter sollten, anstatt ihre Kleinen zu bescheiden: "Ich geh aus und du bleibst da!", lieber überlegen, wie es war, als sie selbst bei Tisch kippelten und warum sie das bisschen Anarchie im Leben so unerträglich finden.
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http://www.zeit.de/2001/42/Kultur/200142_sm-erziehung.html