Quelle: © derStandard.at 20.11.2001 19:26:00 MEZ

Bildungsrucksack, neu geschnürt

Was sollen Schulabsolventen eigentlich wissen?

Christian Pichler, HTL-Schüler aus Wiener Neustadt, zeigte im Vorjahr den Amis, wo Gott wohnt: Beim US-weiten Wettbewerb Intel International Science und Engineering Fair katapultierte sich der Niederösterreicher, der das vierte HTL-Jahr in Cheyenne, Wyoming, verbrachte, mit einem Computerprogramm Dichtedaten des menschlichen Körpers unter die besten drei der USA. Womit wieder einmal bestätigt wurde, dass die heimischen Berufsbildenden Höheren Schulen (BHS) Spitze sind. Die USA und osteuropäische Länder sind an diesem Vorzeigemodell besonders interessiert. In OECD-Studien wird den
Absolventen technischer BHS quasi Hochschulstatus attestiert.
Doch nicht in allen Schultypen herrscht eitel Wonne: Trotz Reformbestrebungen erkommt die Hauptschule in städtischen Gebieten zum Ausländergetto. In den AHS wird über veralteten sowie schlecht aufbereiteten Lehrstoff geklagt, und ohne Nachhilfeunterricht ist spätestens die Oberstufe kaum bewältigbar. Das eigentliche Ziel - Allgemeinbildung - ist längst nicht mehr klar definiert.
Bildung ist zu einem Schattenreich geworden. In ihm sind die Vorstellungen davon verdampft, was man eigentlich lernen soll, hält
Dieter Schwanitz, Bestsellerautor und ehemaliger Professor an der Uni Hamburg, fest. Er hat das Problem auf seine Weise gelöst und vor zwei Jahren einen dicken Wälzer auf den Markt gebracht mit dem Titel Bildung. Alles, was man wissen muss (Eichborn-Verlag). Mag sein, dass es vor allem die Millionenshow ist, die den Wert der Allgemeinbildung gegenwärtig wieder ins Licht der Öffentlichkeit rückt. Wie steht's eigentlich um die Leistungen der Schüler? In einer
internationalen Vergleichsstudie zu Mathematik haben die österreichischen Volksschüler ausgezeichnet abgeschnitten, die AHS-Oberstufenschüler hingegen verheerend. Ein Problem der heimischen allgemein bildenden Gymnasien scheint die mangelhafte Anwendungsorientierung in den Naturwissenschaften zu sein. Zumindest
in der Oberstufe sollte der Lehrer als allwissender Meister, der das Fach einfach nur vorbetet, ausgedient haben, heißt es im Bildungsressort. Die nächste Untersuchung wird am 4. Dezember präsentiert: eine OECD-Studie zur Lesefähigkeit. Über die Ergebnisse wird noch geschwiegen. In einer Studie über die Lesefertigkeiten österreichischer Volksschulkinder kam heraus, dass zwei Drittel sehr gut lesen. Rund fünf Prozent gelten als extrem leseschwach. Im Bereich der Fremdsprachen wiederum gilt Österreich als innovativ, wie Dagmar
Heindler, Leiterin des österreichischen Sprachenkompetenzzentrums in Graz, berichtet. In Zukunft müssten auch andere Fächer in Fremdsprachen - vor allem in Englisch - unterrichtet werden, wünscht sie sich. Das bedinge aber hohe Investitionen in die Schule. Noch wenig Antworten hat das heimische Schulwesen auf die EU-Osterweiterung gefunden. Eine Konferenz an der Uni Wien befasst sich
demnächst damit.

Kinder lernen nicht lernen

Zu hohe Klassenschülerzahl macht Eingehen auf Einzelne unmöglich

Zu hohe Klassenschülerzahlen, die es unmöglich machen, auf den einzelnen Schüler einzugehen - das kritisiert Kurt O. Walkner, Wiener Hauptschullehrer und Chef von drei Nachhilfeinstituten (Lernhilfe). In seiner Nachhilfepraxis beobachtet er, dass Schüler häufig nicht sinnerfassend lesen können und nie lernen gelernt haben. Manchmal sitzen sie auch schlicht im falschen Schultyp. Doch den Jugendlichen werde das Lernen in der Schule, vor allem in der AHS, vrmiest. Sie würden zu Passivität gezwungen, und meist fehle dem Unterrichtsstoff der Bezug zum praktischen Leben.

Teamspieler erwünscht

Schulabgänger sollten keine Einzelkämpfer sein

Fragt man Silvia Buchinger, Personalchefin von Hewlett-Packard (HP) Österreich, nach ihrer Wunschvorstellung von Schulabgängern, dann beschreibt sie diese folgendermaßen: Sie sollten neugierig und offen für neue Dinge sein - keine Einzelkämpfer, sondern eamspieler. Gerade bei den berufsbildenden Schulen sieht sie einen gewissen Nachholbedarf: HTL-Schüler haben oft außer PC-Zeitschriften kaum etwas anderes gelesen. Die Fremdsprachenausbildung funktioniere aber gut. Bei HP ist Englisch die Konzernsprache. Wer sie nicht kann, hat keine Chance.

Betreuung fehlt

Schulsystem stimmt nicht mit den verschiedenen Lerntypen überein

Matthias Roland von der gleichnamigen Wiener Maturaschule über seine Klientel: "Zu uns kommen in den wenigsten Fällen Leute, die Lernprobleme haben oder für die Schule nicht intelligent genug sind." Das österreichische Schulsystem, glaubt Roland, stimme nicht mit den verschiedenen Lerntypen überein. Es gehöre mehr individuelle Betreuung her. In seiner Maturaschule sei auch das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern anders, da extern geprüft werde. Roland: „Wenn viele bei den Prüfungen durchfallen, müssen wir uns ändern und nicht die Schüler. Die Didaktik hinkt nach
Pädagogische Ausbildung der Lehrer entspricht nicht dem letzten Stand

Psychologin Brigitte Sindelar hat sich unter anderem auf Kinder und Jugendliche mit Teilleistungsschwächen spezialisiert. Sie konstatiert vor allem ein großes Problem an der Schule: Die Didaktik hinkt immer um etwa eine Generation nach. Die pädagogische Ausbildung der Lehrer sei dünn und entspreche nicht dem letzten Stand. "Junglehrer kommen dann in die Praxis und glauben sich lauter kleinen Aliens gegenüber, von denen sie in ihrer Ausbildung nichts gehört haben." Und obwohl Kinder immer weniger zuhören könnten, setze die Schule weiterhin auf stundenlange auditive Berieselung.

Unterricht für Entmündigte

Ein trauriger Zustand

Positive Entwicklungen im Grundschulbereich, aber zum Teil ein trauriger Zustand in den weiterführenden Schulen: Das konstatiert
Volksschuldirektor Josef Reichmayr, der mit seiner Lernwerkstatt
Brigittenau mit jahrgangsüberschreitenden Stammgruppen alternative Wege beschreitet. Ein „heruntergehaspelter Stundenplan,
eingebettet in den vorherrschenden Frontalunterricht, entmündige die Schüler und frustriere die Lehrer. Besser wäre, wenn der Unterricht auch in höheren Schulstufen je zur Hälfte seminaristisch und
experimentell-projektorientiert aufgebaut wäre.

Kurssystem für die Größeren

Auf die Interessen und Potenziale der Schüler eingehen.

Bis zum 15. Lebensjahr soll Allgemeinbildung gelehrt werden. Danach müsste auf Interessen und Potenziale der Schüler eingegangen werden,
wünscht sich die auf Bildungseinrichtungen spezialisierte Beraterin Katharina Cortolezis-Schlager (Team-Consult). Ab der 11. Schulstufe sollte es ein Kurssystem geben. Außerdem müsse genauer definiert werden, welche Schlüsselqualifikationen und algemeinbildungskenntnisse nötig sind:
Also, was sind die Dinge, die ein Vierzehnjähriger können muss?
Positiv findet sie, dass sich immer mehr Schulen ein eigenes Schulprofil verleihen.

Freiräume schaffen

Lehrer darf nicht mehr "Missionar"; sein

"Überall, wo Autonomie gewährt wird, entsteht etwas", sagt Konrad
Krainer, Mathematikprofessor an der Uni Klagenfurt, der für das
Bildungsministerium am Projekt IMST, einer Weiterentwicklung des
naturwissenschaftlichen Unterrichts, arbeitet. Es müssten "mehr Freiräume
für selbstständiges Lernen geschaffen werden". Der Lehrer dürfe nicht mehr der "Missionar sein, der Stoff in Schülerköpfe verpflanzt", sondern jemand, "der zwischen Fach und Schüler vermittelt". Nachholbedarf gebe es bei der naturwissenschaftlichen Didaktik, hier müssten die Unis die Schulen mehr unterstützen.

Latein als Freifach

In puncto Sprachen stärker auf lebende setzen

"Wir haben eine gute Grundstruktur, aber auf laufende Veränderungen wird zu langsam reagiert." Als Beleg dafür nennt Susanne Schöberl, Referentin in der Abteilung Schul- und Hochschulpolitik der Arbeiterkammer Wien, die Entwicklung im Gesundheits-und Sozialbereich wie auch bei der EDV-Ausbildung.
Hier gebe es zu wenig Angebot.
In puncto Sprachen müsste man stärker als bisher auf lebende Fremdsprachen setzen. In Ostösterreich sollten auch die Sprachen der Nachbarländer angeboten werden. Latein könne hingegen als Frei- fach gelehrt werden. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 21.11.2001)








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