Lieber Günter, liebe Mitleser,

da ich zwar Literatur als eines meiner Freizeitvergnügen betrachte, andererseits kein ausgebildeter Philologe bin, kann den aufsatz nicht fachmännisch beurteilen, sondern nur den Versuch unternehmen, sachlich zu argumentieren -- und das von einem sehr persönlichen Standpunkt. Zunächst würde ich von den Naturwissenschaften einmal die Mathematik abtrennen, denn da habe ich nicht den Eindruck, dass unseren SchülerInnen zu wenig geboten wird. Über den Physikunterricht wage ich keine Meinung zu äußern, weil ich mich habituell vor PhysikerInnen fürchte.

Mein Fach allerdings, die Chemie, kommt in unserem Land eindeutig zu kurz. Da ich in einer Schule (AHS) mit vielfältigen internationalen Kontakten unterrichte, meine ich zu wissen, dass in anderen europäischen Ländern die Stundenzahlen viel höher liegen -- nicht einmal habe ich bestürzte Gesichter von Kolleginnen gesehen, wenn ich ihnen die armselige Dotierung aufgezählt habe. Ähnliches gilt für die USA. Dass österreichische SchülerInnen bei Chemieolympiaden so gut abschneiden, ist da besonders verwunderlich. Als Lehrer muss ich aber rationalisieren/optimieren wie ein internationaler Konzern, während andere Fächer (fast) dieselben Inhalte 2 - 3mal in den 8 Jahren durchnehmen.

Andererseits freut es mich, wenn ich dann wieder einmal
eine Ex-Schülerin treffe, die eine Chemieprüfung im zB Medizin- Studium als sehr niedere Hürde beschreibt.

Noch schlimmer als in der AHS schaut es aber in großen Teilen des berufsbildenden Schulwesens aus: da wird GERADE am liebsten bei allgemeinbildenden naturwisenschaftlich/technischen Fächern eingespart.

Ich vertrete übrigens auch die ketzerische Meinung, dass zu einer lebensmeisternden Bildung ein bissl mehr gehört, als zu wissen, dass ein Dr. H. Faust einst gentechnologische Experimente gewagt hat ...

mfg

®onald Eidenberger
Maria Hülf






----- Original Message -----
From: "Günter Wittek"
To: "Lehrerforum"
Sent: Monday, December 17, 2001 10:13 PM
Subject: LF: GV zu PISA




GV zu PISA oder: Die Kunst das Schmunzeln zu unterdrücken..
oder: Wie würden wir einen derartigen Schüleraufsatz bewerten?

zu finden unter:
http://www.oest-gewerbeverein.at/

17.12. - Gewerbeverein: Wer die Naturwissenschaften vernachlässigt, bleibt Mittelmaß!

Pisa-Studie zeigt uns die Perspektiven unserer Wirtschaft
dank unserer Bildung!

In Österreich wird Naturwissenschaften nahezu kein Stellenwert zugesprochen. Doch wer über solche Ausbildung nicht reden will, sollte von Bildung besser schweigen - so der Österreichische Gewerbeverein (ÖGV). Gerade noch im OECD-Durchschnitt liegt die Fähigkeit heimischer Schüler, naturwissenschaftliche Phänomene zu erkennen und deren Arbeitsweisen und Methoden zu verstehen.

Gerade deshalb mutet die Debatte um einen Bildungskanon, die vor zwei, drei Jahren begann, nur noch merkwürdiger an. Dutzendfach warfen die Verlage Bücher auf den Markt, deren ganzer Inhalt es war, zu sagen, was ein einigermaßen halbgebildeter Mensch gelesen haben muss, um als solcher gelten zu dürfen, und Bestsellerprofessor Dietrich Schwanitz fasste das in 540 Seiten "Bildung" zusammen.

Bildung, Geschichte, Literatur und alte Sprachen, das war am humanistischen Gymnasium nach dem Krieg tatsächlich alles, was man wissen musste. Leute, die die naturwissenschaftliche Realschule! besuchten, können ein Lied davon singen, welches Renommee diese Anstalt eben nicht hatte. Denn sie vermittelte das, was man nicht wissen musste: "So bedauerlich es manchem erscheinen mag: Natur-wissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht", so Dietrich Schwanitz in seinem schlauen Buch.

Nun stellt die 68-Generation - die den alten Bildungskanon, den Schwanitz noch einmal hervorkramt, zu Recht kritisierte und verwarf - die Lehrergeneration, die die Pisa-Ergebnisse mitzuverantworten hat. Auch ihr Programm war elitär. Es ging um gesellschaftskritisches Hinterfragen, um Ideologieverdacht, der sowohl hinter Goethe wie hinter der biologischen Forschung stets den Nazivater am Werk sah, der mit Heidegger gegen die Technik argumentierte, um gleichzeitig den technisch-industriellen Massenmord zu betreiben. Angewandte Wissenschaft war die dunkle Seite der Aufklärung, eben instrumentelle Vernunft.

Die moderne Welt gerann schließlich zum trivialen Generalverdacht gegen Industrie- und Kapitalinteressen und vermittelt eben kein Motiv des Wissenserwerbs; nur das Motiv für eine allgemeine Einstellung, der das Interesse an Technik und Wissenschaft eher verdächtig als fördernswert erscheint. Doch nach Pisa braucht der schulische Erfolg ein gesellschaftliches Klima, das von einem positiven Interesse an den Naturwissenschaften geprägt ist. Und wenn dieses Interesse auch kein unkritisches sein soll, dann darf die Freude an naturwissenschaftlichen Entdeckungen doch nicht von vornherein als naiv entwertet werden.

Sonst bleibt unsere Wissenschaft trotz des Versprechens
der Vizekanzlerin mehrere Nobelpreisträger hervorzubringen, eben doch nur im Mittelfeld. Und das rächt sich in der Wirtschaft einmal bitter.





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