Süddeutsche Zeitung 19 12 01
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FALSCHER EIFER
Irrtum „Pisa“-Studie: Wie zu viel Wettbewerb Bildung verhindert
Alle starren auf eine Zensur namens „Pisa“: auf den fünfundzwanzigsten Platz von zweiunddreißig. Allein um die Zensur kreist die Debatte um das Elend der deutschen Bildung – wenn man es denn eine Debatte nennen kann, wenn dabei alle dasselbe wollen: mehr Leistung, mehr Fleiß, mehr Disziplin. Diese Debatte wird vergeblich sein, weil sie den Fehler aller vorangegangenen Debatten um die deutsche Schule wiederholt: Sie verwechselt die Bildung mit einem Leistungsvergleich. Es ist der Wettbewerb der Industrienationen, der die Sorge der Politiker und der Öffentlichkeit beflügelt, das übliche Gerangel um Konkurrenzvorteile und Standortnachteile. Kein Politiker würde nun mit Kummerfalten im Gesicht vor die Kameras treten, wären die kleinen Japaner oder die kleinen Kanadier genauso ahnungslos wie ihre deutschen Altersgenossen. Dumm zu sein ist hier das geringste Problem – dümmer zu sein hingegen das größte.
Haben wir nicht alles für unsere Kinder getan? In der Debatte um die Bildungsstudie ist die Enttäuschung nicht zu überhören, die Ratlosigkeit auch nicht. Und keiner kommt auf den Gedanken, den Grund für diese Enttäuschung in dieser Enttäuschung selbst zu erkennen. Es ist aber durchaus zynisch, Bildung als Mittel des Wettbewerbs zu betrachten. Und es ist durchaus zynisch, wie jetzt die Schuldigen für das Elend der Bildung gesucht
werden: als gehe es nun vor allem darum, die schwachen Stellen des Bildungswesens zu finden und zu reparieren, und schon sei alles gut. Es wird aber nicht helfen, Kinder in der Vorschule mit englischen Vokabeln zu traktieren oder gar Lehrer nach Leistung zu bezahlen. Im Gegenteil, solche Maßnahmen werden das Elend der deutschen Bildung nur verstärken. Denn auch sie sind zynisch. Genauso zynisch wie die vielen Eltern, die sich schon vor der Geburt eines Kindes von der panischen Sorge um Bildungschancen ergreifen lassen – sie zerstören so das letzte freie Interesse an Bildung, das ihr Kind noch haben mag.
Die entscheidende Frage lautet nicht, wer für das Elend der deutschen Bildung verantwortlich ist. Die Frage lautet vielmehr, warum die Begeisterung und die Neugier, mit der sich noch fast jedes Kind seine Welt zu erschließen trachtet, so gründlich zerstört wurde: durch eben jenen Glauben an den Wettbewerb, den die Deutschen so gern gewonnen hätten – und unter dem sie aber so sehr leiden, wenn er ihnen als Ergebnis einer internationalen Studie zu ihrem Nachteil präsentiert wird.
Abitur als Zensuren-Börse
Was soll man von einem Gymnasium halten, das seine Schüler dazu zwingt, ihre letzten beiden Schuljahre mit Wählen, Rechnen und Tricksen zu verbringen? Drei Jahre, in denen nicht Neigung und Interesse den Ausschlag für die Wahl der „Leistungsfächer“ geben, sondern lauter bildungsfremde Fragen: In welchem Fach war man bisher gut, welches Fach ist einfacher als die anderen, welcher Lehrer gibt die besten Noten? Was ist von einer Pädagogik zu halten, die in den dreißig Jahren ihrer ideologischen Herrschaft über das deutsche Schulwesen nicht einen Fetzen greifbarer Bildung, dafür aber lauter Theorien hervorgebracht hat – Theorien, die vornehmlich dann angewandt werden, wenn es darum geht, das Scheitern eines Schülers zu rechtfertigen? Was ist von Kultusministern zu halten, die glauben, eine gewachsene und allen vertraute Orthographie so verbessern zu müssen, dass am Ende keiner mehr weiß, wie man richtig schreibt? Und was ist von einer Schule zu halten, die meint, sich von ihrer Verantwortung für die Schüler dadurch zu befreien, dass sie gegen die Gesellschaft lebt und die Kinder mittags nach Hause schickt?
Und vor allem: Was ist von Lehrern zu halten, in deren Wissen eben jene pädagogischen Theorien alle Sachverhalte beherrschen – und deren folglich willkürlicher Umgang mit dem Stoff dazu führt, dass sich ihre Interessen mit denen der Schüler tatsächlich nur noch an einem Punkt treffen können, und zwar von entgegengesetzten Seiten: bei den Zensuren? Ist eine solche Liste einmal eröffnet, so ist sie kaum noch zu schließen: Die alles entscheidende Frage nach der Gymnasialempfehlung hat Konkurrenztechniken, die bis vor ein, zwei Jahrzehnten dem Abitur vorbehalten waren, in die dritte Klasse der Grundschule eingeführt. Die Verwandlung der gymnasialen Oberstufe in eine Börse der Spekulation auf Zensuren hat dazu beigetragen, dass die Universität immer mehr Aufgaben der Schule wahrnehmen muss – wo sich dann die Ungebildeten mit denen treffen, denen die Hochschule zum Schutzhafen wider die Arbeitslosigkeit geworden ist. Und längst kehren die Kinder, die durch dieses Bildungssystem gegangen sind, als Lehrer an die Schulen zurück.
Falls sie es schaffen. Denn die Durchsetzung des Wettbewerbs bis in den letzten Winkel der Schule hat dafür gesorgt, dass es keine Verbindung mehr gibt zwischen dem Aufwand, mit dem einer seine Bildung betreibt, und dem Ertrag, den er dafür erhält. Noch vor vier Jahrzehnten war die Universität nicht der vom ersten bis zum letzten Tag prekäre, unsichere, vom Zynismus geprägte Aufenthaltsort, der sie heute ist, sondern die erste Etappe einer gesicherten Laufbahn. „Lebenslanges Lernen“ wird heute stattdessen gefordert, mehr „Flexibilität“, „Mobilität“, der Begriffsschrott bildet ganze Berge. Es gehört zu den Eigenarten der Lehre von der totalen Konkurrenz, dass sie stets nur mit den Bildern der Gewinner illustriert wird. Viele – und viele Schüler – wissen es besser. Sie eröffnen die Rechnung von Kosten und Nutzen in umgekehrter Richtung. Und kommen zum Ergebnis, dass sich wenig Aufwand und mäßiger Ertrag eher lohnen als viel Aufwand und sehr ungewisse Aussichten. Kein Wunder also, dass dieses Bildungswesen die Klassenunterschiede fördert, dass reich und arm, gebildet und ungebildet wieder weiter auseinander treten, als es lange Zeit der Fall war. Der Prozess, in dem mehr Konkurrenz mehr Leistung hervorbringt, scheint am Ende angekommen, ja in sein Gegenteil umgeschlagen zu sein.
Das alles ist in den Ländern, mit denen die Bundesrepublik im Vergleich der Industrienationen konkurriert, nicht grundsätzlich anders. Aber nirgendwo scheint die Lage dermaßen hoffnungslos zu sein. Das liegt daran, dass sich in all diesen Ländern Widerlager gegen den schulischen Wettbewerb herausgebildet haben – offensichtliche Widerlager wie in den skandinavischen Ländern, in denen nicht nur das Verhältnis zwischen Bildungsaufwand und - ertrag in höherem Maße gewahrt worden ist als hier zu Lande, sondern wo zugleich das Bildungssystem von der Grundschule bis zur Universität durchlässig bleibt für alle Arten von Umsteigern, Rückkehrern und Spätberufenen. Weniger offensichtliche Widerlager wie in Nordamerika, wo es nicht nur die selbstbewusstesten Schüler gibt, sondern auch ein Bildungssystem, das zwar elitär ist, aber neben der Zensur eine ganze Reihe scheinbar schulfremder Qualifikationen kennt, darunter den Enthusiasmus. Dieser aber, die schlichte Begeisterung für das Lernen, ist der wichtigste Bildungsgrund von allen.
In Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ gibt es einen Lehrer, der nichts, reinweg gar nichts von Pädagogik versteht: den prustenden, zischenden, dauernd errötenden Wendell Kretzschmar. Und doch hatte Adrian Leverkühn nie einen besseren Lehrer, „denn er fesselte uns mit Dingen, von denen wir nie gedacht hätten, daß sie unsere Aufmerksamkeit hinnehmen könnten, und selbst sein furchtbares Stottern wirkte am Ende dabei nur als erregend bannender Ausdruck des Eifers“. Es ist nicht leicht, aus dem Enthusiasmus ein bildungspolitisches Argument zu machen. Leicht hingegen ist es, realistisch darüber die Nase zu rümpfen und die Enthusiasten zu Idealisten zu erklären, die der Wirklichkeit nur blind gegenüber stehen. Aber solcher Dünkel wird nun nicht mehr helfen. Denn nicht die Idealisten und Enthusiasten – lauter Realisten und Pragmatiker haben das Elend der deutschen Bildung hervorgebracht. THOMAS STEINFELD
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