Rheinischer Merkur 21 12 01

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FINNISCHE REZEPTE

Schüler, die Weltmeister im Fach Lesekompetenz wurden, profitieren vom guten Sprachunterricht

Wer schwach ist, wird stark gemacht

Das kleine Volk der Finnen achtet die eigene Kultur besonders stark. Das Nationalepos kennt jeder fast auswendig.

Autor: MECHTILD KOSTAMOINEN

Mit witzigen Liedern geht es in der ersten Klasse der Grundschule, der "peruskoulu", los: Da soll den kleinen Finnen die Wichtigkeit der Buchstaben klar werden. Das Schreiben in Blockbuchstaben und das Lesen der so produzierten Wörter gehen Hand in Hand. Im Jahr darauf wird dann die Schreibschrift gelehrt. Die Texte werden länger und die Kinder ermuntert, die ersten Bücher zu lesen. Ein gemeinsamer Besuch in der Bücherei, bei dem jedes Kind seine Leihkarte bekommt, ist selbstverständlich. Trotz Internet spielen die Bibliotheken im Leben eines finnischen Schülers eine große Rolle.
Das finnische Fernsehen, das ja nur rund fünf Millionen Zuschauer hat, sendet alle ausländischen Filme in der Originalsprache, versieht sie aber mit finnischen oder schwedischen Untertiteln. Schon die Zweitklässler - finnische Kinder sehen wie alle Kinder gern und viel fern - beginnen, diese Untertitel zu verstehen, zumal die Dialoge meist gekürzt sind, sodass die Textmenge überschaubar ist. Die positive Folge - und wohl ein Grund für das sehr gute Abschneiden beim Pisa-Test: Lesegeschwindigkeit und Leseverständnis verbessern sich. Zugleich wird das Hörverständnis für Englisch geschult, denn die meisten Filme stammen aus den USA oder aus England.


Fünfzehn Minuten extra

Ein möglicher zweiter Grund: Schon in der Vorschule (mit sechs Jahren) und erst recht in der ersten Klasse kommen speziell ausgebildete Lese- und Sprecherzieher in die Gruppen und Klassen. Sie suchen die Kinder heraus, die Nachhilfe brauchen; in diesem Stützunterricht wird mit jedem Einzelnen, jeweils eine Viertelstunde lang, das Nötige geübt. Kinder von Einwanderern erhalten Zusatzstunden, in denen mehrere von ihnen zusammen unterrichtet werden, damit sie echte Kommunikationssituationen kennen lernen. Die Lehrkräfte haben eigens "Finnisch als Fremdsprache" studiert.
Als dritten Grund für die Lesekompetenz finnischer Schüler kann man den anspruchsvollen Muttersprachunterricht ansehen. Von der ersten bis zur neunten Klasse umfasst er durchgehend drei bis vier Wochenstunden. Schwerpunkte sind die Struktur der Sprache, also Grammatik, das Leseverständnis, die eigene Produktion von Geschriebenem und Gesprochenem mit dem dazu gehörigen Sammeln von Informationen in Büchereien und im Internet. Im Grammatikunterricht wächst dann bei vielen Finnen das Ausländern bekannte Gefühl, dass Finnisch sehr schwierig ist. Leute, die gutes, schönes Finnisch schreiben, werden bewundert. Das Leseverständnis wird an Texten aus dem Lesebuch geübt, aber auch an Zeitungsartikeln, an
Internet- und Werbetexten.
Erst im achten und neunten Schuljahr werden die Schüler richtig an Literatur herangeführt; sie schreiben dann kleine Buchrezensionen. Insgesamt müssen sie sich so acht Bücher erarbeiten. Eine Ausnahme macht das Nationalepos "Kalevala", aus dem jeder Schüler ein Kapitel liest und der Klasse davon erzählt. Allerdings wird das Leseverständnis vom Ende der ersten Klasse an geprüft. Die Kleinsten müssen in einer Geschichte einige Wörter suchen und unterstreichen, danach sind Sätze zu ergänzen. Außerdem müssen die Kinder einzeln einer Lesetherapeutin vorlesen. In der nächsten Klasse wird eine Geschichte vorgetragen, die die Kinder schriftlich nacherzählen müssen. Mit jeder Klasse werden die Anforderungen erhöht. Viele Schulen machen zum Abschluss der neunjährigen Grundschulzeit bei einer Art Abitur mit: einem zentralen Test, dessen Ergebnisse für nationale Vergleiche ausgewertet werden.
Viele Aufgaben werden in Gruppen erarbeitet. Zunächst sind es je zwei Kinder, später werden die Gruppen größer. Dabei wird darauf geachtet, dass nicht immer dieselben Kinder zusammenarbeiten. Falls es Noten gibt, wird die Gruppe gemeinsam benotet. Deshalb sorgt jedes Gruppenmitglied dafür, dass sich jeder einsetzt und auch die schwächeren Schüler mitkommen. Indem die Ergebnisse referiert werden, wird der mündliche Ausdruck geübt. Dass die besten Schüler öfter frustriert sind, weil ihrer Meinung nach alles zu langsam geht, wird in Kauf genommen.


Gegen die Verführung

Nach den neun Jahren Pflichtschule wechselt etwas mehr als die Hälfte eines Jahrgangs ins "lukio", das der deutschen gymnasialen Oberstufe entspricht, die anderen gehen in die berufsbildenden Schulen, die Theorie und Berufslehre vermitteln. Möglich ist auch, berufliche Ausbildung und "lukio" zu verbinden.
Ziel der Schulbildung ist es, dass aus den jungen Menschen kritische Bürger werden. In der gymnasialen Oberstufe haben auch deshalb politische Texte, Theater, Film und andere Gattungen Gewicht. Eine zentrale Frage ist, wie Sprache funktioniert und bis hin zur Verführung benutzt werden kann. Eine interessante Mixtur aus Referat, Analyse und eigener Stellungnahme ist das Lesetagebuch, in dem die Schüler während der Lektüre notieren, was ihnen auffällt. Sie sollen also Sprache als Mittel nutzen, um sich selber darzustellen und eigene Gefühle und Gedanken mitteilbar zu machen.
Viele Wochenstunden Unterricht gehören den Fremdsprachen. Jedes normal begabte Kind muss außer der Muttersprache die zweite offizielle Landessprache lernen: Schwedisch oder - für schwedische Muttersprachler - Finnisch. Dazu kommt mindestens Englisch, meist schon vom dritten Schuljahr an. Wahlfächer sind in der Grundschule Deutsch, Französisch, Russisch, immer öfter auch Spanisch oder Italienisch. Ein sprachinteressierter Abiturient kann also als Sprachenfolge Finnisch, Schwedisch, Englisch, Deutsch, Französisch und Latein wählen und in allen Sprachen die Prüfung schreiben.
Auch in den Fremdsprachen werden vor allem Grammatik und Wortschatz gelernt und die mündliche Kommunikation vorangetrieben. Erst in der gymnasialen Oberstufe werden literarische Texte besprochen. Doch das ist ein Mangel, nach dem die Pisa-Prüfer nicht geforscht haben.



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