Süddeutsche Zeitung 22 12 01
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Furcht vor Tafel und Kreide
Wie gut Japans Schulen wirklich sind – und warum die Japaner ihre Erziehung in der Krise sehen
Die Bildungsstudie der OECD hat es wieder einmal gezeigt, im internationalen Vergleich schneiden Japans Schüler gut ab, sehr gut sogar. – Ja, in Mathematik, hört man im Hintergrund leicht abfällig einen Kritiker murmeln, als sei das etwas anderes als „echte“ Bildung. Zu denken geben muss allerdings der Befund der Bildungsforscher, dass die Stärke der japanischen Schüler nicht im Auswendiglernen und mechanischen Anwenden von Regeln liegt, sondern im Problemlösen, im kreativen Umgang mit mathematischen Aufgaben also. Das widerspricht stereotypen Vorstellungen von der japanischen Schule: routiniert, diszipliniert, konformistisch, faktenbesessen, unkritisch. Dass ein solches Bild nicht der Wirklichkeit entspricht, legen schon die Ergebnisse der OECD-Untersuchung nahe, die sich nicht leicht zerreden lassen. Die japanische Schule ist – bei allen Vorbehalten, die bei solchen Verallgemeinerungen geboten sind – besser als die deutsche, und sie leistet wesentlich mehr für die Gesellschaft. Die Gesellschaft glaubt nach wie vor an die Schule, und die große Mehrheit geht allen gegenteiligen Berichten in westlichen Medien nach wie vor gern zur Schule. Das ist der große Unterschied.
Dabei ist die Krise der Schule seit Ende der neunziger Jahre ein in der japanischen Öffentlichkeit intensiv diskutiertes Thema. Lehrer, Eltern und Bildungspolitiker sehen, dass das japanische Erfolgsmodell unter Druck gerät. Der augenfälligste Indikator der Krise ist die um sich greifende Schulphobie. Absenzraten haben sich im Laufe des letzten Jahrzehnts verdoppelt. Die Ursachen sind vielfältig. Eltern klagen über den Zerfall der Autorität der Schule, zu dem sie aber selbst beitragen. Lehrer klagen über eine neue Generation von wenig kooperativen Eltern, die ihre Autorität nicht bedingungslos akzeptieren, theoretisch mehr über Kindererziehung wissen als ihre Eltern, praktisch aber wenig Erfahrung haben. Beide Seiten klagen über eine neue Generation unbeherrschter Kinder, die den Zusammenhalt der Klasse gefährden, und darüber, dass dadurch die Zusammenarbeit von Lehrern und Eltern schwieriger geworden ist.
Die tragende Säule des japanischen Schulsystems, darüber ist man sich weithin einig, ist die sechsjährige Grundschule. Das sie bisher leitende Konzept ist eine ganzheitliche Erziehung des Kindes. An erster Stelle steht das Sozialtraining, an zweiter die Charakterbildung und erst an dritter die Vermittlung akademischen Stoffs. Die Schule ist ein Lebensraum, keine Anstalt, die nur dem Wissenstransfer dient. Klassen sind groß, oft über 30 Kinder. Von Anfang an lernen sie in wechselnden Kleingruppen zu arbeiten. Einteilung in Leistungsniveaus gibt es nicht. Man glaubt nicht an Begabung, sondern an Mühe und Aufrichtigkeit. Auf dem Grundschulniveau ist das japanische System noch immer sehr stark dieser egalitären Ideologie verpflichtet. Das gemeinsame und harmonische Fortschreiten der ganzen Klasse ist wichtiger als die herausragende Einzelleistung.
Lehrerinnen und Lehrer unterrichten in diesem Geist in der Regel alle Fächer und sind den ganzen Tag mit den Kindern zusammen. Zu ihren Aufgaben gehört es, Hausbesuche zu machen. Sie sollen und wollen alles über die Lebensverhältnisse jedes einzelnen Schülers wissen. Eine Rundumbetreuung ist das, die den Lehrkräften viel abverlangt.
Kein Hausbesuch
Darüber, dass diese Grundschule die Basis einer breiten und hohen Bildung in der ganzen Gesellschaft ist, besteht kein Zweifel, aber das System beginnt Risse zu zeigen. Wenn ein Kind der Schule früher (vor 30, 40 Jahren) aus nicht ersichtlichen Gründen fernblieb, war es nicht unüblich, dass die Lehrerin zu dem Kind nach Hause ging und es in die Schule holte, ob es wollte oder nicht. Wenn es sich nicht wohl fühlte, würde es schon darüber hinwegkommen. Heute wird Schulphobie als Krankheit akzeptiert, und die Kinder werden kaum mehr gezwungen, in die Schule zu gehen. Gleichzeitig ist die Bereitschaft vieler Eltern geringer geworden, ein Eindringen der Lehrer in den familiären Bereich zu dulden. Bei den Lehrern wiederum hat das zur Folge, dass sie selbst größere Hemmungen haben und den Hausbesuchen skeptischer gegenüberstehen als früher.
Manche interpretieren die zunehmenden Absenzraten an japanischen Schulen damit, dass die egalitäre Grundhaltung langsam von einer stärker individualistischen Orientierung zurückgedrängt wird. Zum Teil ist das gewollt, weil viele der Meinung sind, Japan brauche heutzutage mehr Spitze als Breite, weswegen die Schule mehr auf individuelle Unterschiede eingehen
müsse; zum Teil ist es eine Folge der sich im Zuge der Globalisierung stärker diversifizierenden japanischen Gesellschaft, ein Prozess, der sich nur schwer oder überhaupt nicht steuern lässt.
Was tun? Was macht eine gute Schule aus, und wie sorgt man für ihre Errichtung und Erhaltung? Eine Schule kann nicht besser sein als die Gesellschaft, deren Kinder sie erziehen soll: jede Schulreform steht vor diesem Dilemma. Jede Lösung, jede gute Schule ist darum eine komplizierte Funktion aus Kultur und gesellschaftlicher Entwicklung. Das erkennt man, wenn man sich daran erinnert, wo die Schule zuerst in eine tiefe Krise geriet, in den USA: Autoritätsverfall, soziale Zerrüttung, Gewalt, Absenz, schlechte Leistungen. Dennoch sind die USA – nicht zuletzt dank ihrer hervorragenden Eliteuniversitäten – in vieler Hinsicht das höchst entwickelte Land der Erde. Ein breites, die ganze Gesellschaft charakterisierendes Bildungsethos ist jedoch weitgehend verloren gegangen. Die Antwort auf die Schulkrise war immer stärkere Partikularisierung, jedem nach seinen individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten: strikter Pluralismus.
In China, am anderen Ende der Entwicklungsskala, versteht man die Schulprobleme, die Japan hat, nicht. Schulphobie ist ein Luxus, den man sich nicht erlaubt. China und Japan gemeinsam ist die konfuzianische Tradition, der Bildung als eigener Wert und als Mittel zum sozialen Aufstieg gilt. Nur ist Japan sehr viel weiter vorangekommen, womit auch, dem amerikanischen Modell folgend, die Bereitschaft größer geworden ist, die Schule stärker auf individuelle Bedürfnisse auszurichten. Diese Entwicklöung scheint unaufhaltsam, was die Frage aufwirft, ob die Diversifizierung der Gesellschaft eine positive Bewertung von Individualismus und Pluralismus erzwingt oder ihr folgt. Die Schulkrise in Japan erweckt den Eindruck, dass ersteres der Fall ist. Man muss hoffen, dass in der stärkeren Förderung der individuellen Begabung nicht das einzige Rezept zur Behebung der Krise gesehen wird.
Denn immer stärkere Spezialisierung führt auch zu sozialen Distanzen, während eine egalitäre Grundeinstellung es verbietet, Begabungs- und andere Unterschiede als Grund ungleicher Behandlung zu akzeptieren. Für die Erziehung zu einem wechselseitigen rücksichtsvollen Umgang trägt diese Grundeinstellung, die in Japan immer noch in großem Maße erfüllt ist, entscheidend bei. Trotz zunehmender Absenzraten ist die Schule deshalb, anders als hierzulande, für die große Mehrzahl aller Schüler ein Ort, den sie schätzen. Weder bei Eltern noch bei Schülern hat sie – wie in den USA und der Bundesrepublik – das Image eines notwendigen Übels. Die Frage ist, ob ihr dieser Malus im Zuge der weiteren Entwicklung unvermeidlich zuwächst, oder ob die bildungsfreundliche kulturelle Tradition stark genug sein wird, dies zu verhindern.
FLORIAN
COULMAS
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