Süddeutsche 02 01 02

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Kein Spaß am Lernen

Die überraschend positiven Pisa-Ergebnisse kontrastieren mit der in der Japan allgemein wahrgenommenen Bildungskrise


Von Henrik Bork

Lob bekommen Japans Schulbürokraten selten zu hören. Doch nach der Veröffentlichung der Pisa-Studie, in der das Land überdurchschnittlich gut abgeschnitten hat, klopfte man sich im Erziehungsministerium in Tokio erst einmal kräftig auf die Schultern. „Das Konzept der Leistungsfähigkeit in dieser Studie ähnelt unserem eigenem, nämlich der Fähigkeit zum eigenständigen Lernen und Denken. Wir denken, dass Japans Schüler ziemlich gut abgeschnitten haben“, zitierte die Zeitung Asahi Shimbun einen Beamten.

Taugt also Japans Schulsystem, lange für seine Rigidität und sein stures Pauken gescholten, nun sogar als Modell für andere Länder? Ist die Folge von sechs Jahren Grundschule, drei Jahre sogenannter Mittelschule und dann, nach einer Eingangsprüfung, weiteren drei Jahren Oberschule mit Ganztagsunterricht die Antwort auf die Schulsorgen anderer Länder?

Allein wegen der qualitativen Unterschiede im japanischen Schulalltag sind Zweifel geboten. Während einzelne Schulen als Vorzeigemodell taugen mögen, finden sich oft nur wenige Kilometer entfernt eher rückständige und vernachlässigte Lehranstalten. Das japanische Bildungssystem befindet sich nach Meinung der meisten japanischen Experten in einer Phase des Umbruchs, und der geht wie überall mit einzelnen Fortschritten, aber auch viel Chaos einher.

Viele Lehrer und Erziehungsexperten in Japan begrüßen die Resultate der Pisa-Studie daher mit Skepsis. Die aktuelle Debatte über das japanische Erziehungssystem weist in die entgegengesetzte Richtung und orientiert sich an Stichworten wie „Niedergang der schulischen Leistungen“ oder „Schwund der Lernfähigkeit“. Viele Schüler können nach der Oberschule nicht einmal die einfachsten Aufgaben lösen, was sich besonders an den sinkenden Leistungen der Universitätsstudenten ablesen lasse. Auch das Pisa-Ergebnis, dass 53 Prozent aller japanischen Schüler Lesen als Freizeitvergnügen aufgegeben haben (im Durchschnitt der 32 beteiligten Länder sind es 31 Prozent) beunruhigt die Japaner.

Schon seit den Achtziger Jahren bemühen sich sowohl die Erziehungsbürokraten als auch viele Lehrer in Japan um Alternativen zu dem traditionellen, vor allem auf Prüfungen und Drill ausgerichteten Unterricht. Mit den jüngsten Reformen ist erneut der Stoff der Lehrbücher, die vom nächsten Frühjahr zum Einsatz kommen, um rund 30 Prozent reduziert worden. Von der Renaissance oder Europas erstem Zusammenprall mit dem Islam werden Japans Schüler dann nichts mehr erfahren, und die Zahl Pi wird ihnen nur noch als „ungefähr drei “ vorgestellt. Auch die Zahl der Unterrichtsstunden wird weiter gesenkt, und zwar indem der Samstag generell unterrichtsfrei wird.

Paukschule am Abend

„Die Meinung, was schulische Leistungen sind, hat sich in Japan seit neun, zehn Jahren verändert, als das Erziehungsministerium neue Richtlinien veröffentlicht hat“, sagt der Erziehungskritiker Naoki Ogi. „Das Pauksystem hat drastisch an Boden verloren.“ Andere Experten verweisen allerdings darauf, dass sich das Pauken lediglich aus den in Japan üblichen Ganztagsschulen in die Abendstunden verlagert habe. Es sind die Eltern, die selbst noch mit dem alten System groß geworden sind, die ihre Kinder nach wie vor unter Druck setzen. Daher florieren die „Juku-Paukschulen“ immer noch als paralleles Bildungssystem. Dort wird den Schülern, oft schon vom Kindergartenalter an, systematisch abfragbares Wissen eingetrichtert. Nur wer sich an diesem kostspieligen und arbeitsaufwendigen Nachsitzen beteiligt, hat Chancen, später die Aufnahmeprüfungen für eine der mit den begehrten Eliteuniversitäten liierten Oberschulen zu schaffen.

Dem jüngsten Weißbuch des Erziehungsministeriums zufolge sind gut zwei Millionen von 7,4 Millionen Grundschülern und knapp drei Millionen von 4,1 Millionen Mittelschülern an solchen Paukschulen eingeschrieben. Zyniker behaupten, nur dort werde in Japan überhaupt gelernt. „Selbst wenn man eingesteht, dass das sture Pauken innerhalb der japanischen Schulen allmählich zurückgeht, sind die Schüler in den Juku-Schulen und etwa im
Mathematik- Unterricht der Mittelschulen nach wie vor einzig mit Rechenaufgaben beschäftigt“, sagt der Professor Toshiyuki Shiomi von der Erziehungsfakultät der Tokio-Universität. „Klar, dass sie dann bei Tests wie Pisa gut abschneiden. “

Auch Toshiyuki Shiomi meint, dass Japans Schüler nach wie vor zu sehr auf Examen und Tests gedrillt werden, und zu wenig kreativ lernen. „Japanische Schüler, die gut abschneiden, haben sich daran gewöhnt, ständig über von Erwachsenen für sie errichtete Hürden zu springen. Das ist immer noch der vorwiegende Lernstil in Japan. Sie sind gut in Tests, aber sie haben keinen Spaß am Lernen. Diese Tendenz hat die Pisa-Studie klar belegt.“

Selbst dass japanische Schüler im Bereich „Lesekompetenz“ in der Pisa- Studie auf einem guten achten Platz gelandet sind, bringt wenige Bildungsfachleute in Japan zum Jubeln. „Das traditionelle Lernen mit seinem Pauken und den Aufnahmetests scheint japanische Schüler mit der Fähigkeit auszustatten, zu lesen und zu verstehen, obwohl sie außerhalb der Schule keinerlei Bücher mehr lesen“, sagt der Professor Takehiko Kariya von der
Tokio- Universität. Folgt man dieser Logik, wären die guten Ergebnisse der
Pisa- Studie eher das Verdienst der Paukschulen, als des offiziellen Schulsystems.

Auch ist in Japan nicht unbeachtet geblieben, dass zwar das „Mittelfeld“ der Durchschnittsschüler in der Pisa-Studie glänzte, dass aber die besten fünf Prozent schlechter abschnitten als die Musterschüler anderer Industrieländer. „Wenn man die durchschnittlichen Punkte der führenden fünf Prozent aller Länder vergleicht, landet Japan im Mittelfeld“, argumentiert Nobuyuki Tose von der Tokioter Keio Universität in in der Zeitung Sankei Shimbun. „Das bedeutet, dass wir nicht genug Führungspersönlichkeiten für Japans Zukunft besitzen.“

Tristesse des Arbeitsalltags

Schlechte Schüler, so lautet mittlerweile ein häufiges Argument konservativer Politiker und Beamter in Tokio, sollten deshalb fortan mehr sich selbst überlassen werden. Stattdessen wollen sie die wenigen guten Schüler noch besser fördern, weil nur sie es seien, die am Ende für die Wirtschaftsleistung des Landes eine Rolle spielten. Eliteförderung heißt das Motto der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP), auch wenn sie es nicht offen aussprechen mag.

Die größte Herausforderung für Lehrer und Bildungsexperten in Japan hat jedoch nichts mit Lehrplänen oder Curricula zu tun. Es ist die seit einem Jahrzehnt andauernde wirtschaftliche Stagnation, die das Grundvertrauen der Schüler in eine gute Zukunft erschüttert hat. „Japan ist in einer so tristen Situation, und die Schüler wissen das“, sagt der Lehrer Hagikura aus Chiba. „Der Beschäftigungschancen für Oberschulabsolventen, die nicht zur Universität wollen, sind so schlecht, dass sie einfach keine Lust mehr zum Lernen haben.“



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