Die Presse 03 01 02
http://www.diepresse.at/detail/default.asp?id=266537&channel=m&ressort=g
Weniger ist oft mehr: Lernen ist nicht nur in der Schule möglich
Warum Schüler manchmal die Schule schwänzen: Weil sie einfach lernen müssen! GASTKOMMENTAR VON HEINZ KOHLHAMMER Der Autor ist AHS-Lehrer und unterrichtet an einem Abendgymnasium in Graz.
In der Hitze des späten August 2001 blieb eine Meldung unbemerkt, die viel Beachtung verdient hätte: Die österreichischen Schüler zwischen 12 und 14 Jahren verbringen in diesen drei Schuljahren insgesamt 3407 Stunden in ihren
Klassenzimmern: Bedeutend mehr als ihre Kollegen aus allen anderen europäischen Ländern. Finnische Schüler dieses Alters müssen hingegen nur 2222 Unterrichtsstunden besuchen ! Die Überraschung über diesen Unterschied in der Unterrichtsdauer (ca. 50% mehr Stunden für unsere Schüler im Vergleich zu den Finnen !) wird noch gesteigert durch die Ergebnisse der PISA-Studie der OECD, die alle drei Jahre Schüler-Leistungen vergleicht: Gerade die Finnen sind am Ende der Schulpflicht in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften europäische Spitze, in der Schlüsselqualifikation "Lesen - Erfassen von Texten" sind sie "mit Abstand" die Besten - und zwar aller OECD-Staaten! Der Punkteabstand zwischen den Finnen und den zweitplazierten Kanadiern ist so groß wie der zwischen den Kanadiern und den am achten Platz gereihten Japanern. Ausdrücklich stellt die Studie fest, daß Finnland nicht nur die besten Leser habe, "sondern auch die größte Gruppe von Jugendlichen mit hoher Lesefreude". Für dieses finnische Ausbildungs-Wunder wird es sicher ein Bündel von Gründen geben. Aber ein Umstand fällt auf, über den nachzudenken sich lohnen
dürfte: In Finnland wird mit geringster Unterrichtszeit das beste Ergebnis erreicht - und damit bestätigt, was sich offiziell niemand zu sagen getraut: Lernen hat viel weniger mit Unterricht zu tun, als uns Schullobbyisten weismachen wollen. Natürlich unterstützt Unterricht das Lernen, aber wir erwerben den größten Teil unseres Wissens außerhalb der Schule. Auch wenn Österreich in der oben erwähnten PISA-Studie relativ gut abgeschnitten hat, ist das Ergebnis im Verhältnis zum Unterrichtsaufwand nicht befriedigend. Österreichs Schulen wirken oft wie Aufbewahrungsstätten, in denen Jugendliche so sehr mit Unterricht zugeschüttet werden, daß sie zu Hause zu erschöpft sind, um noch wirklich zu lernen. Wenn man Schüler fragt, warum sie den Unterricht immer wieder "schwänzen", antworten sie offenherzig: "Ich muß lernen. Übermorgen habe ich eine Prüfung." Wirkliches Lernen ist offensichtlich nur zu Hause oder gemeinsam mit Kollegen möglich - der Unterricht stört da nur. Und sie tun gut daran. Sie lernen so, sich ihre Informationen aus verschiedenen Quellen (Bücher, Lern-Software, Internet, Wissen der Kollegen und anderer Bezugspersonen) selbst zu besorgen und erringen so die Fähigkeiten, die alle modernen Lerntheoretiker von der Schule bisher vergeblich eingefordert haben: Kompetenz zum selbstgesteuerten Lernen. Technologisch führende Nationen auferlegen ihren Jugendlichen eine deutlich geringere Unterrichtszeit als wir, einige deutsche Bundesländer gehen daran, das bisher angeblich so unverzichtbare 9. Gymnasialjahr zu streichen. Viele beginnen ein Studium (mittels der Berufsreifeprüfung oder der Studienberechtigungsprüfung), ohne jemals eine Mittelschule von innen gesehen zu haben. Den Präsenzunterricht auf allen Schulstufen zu reduzieren, hätte daher nur positive Folgen. In der gymnasialen Oberstufe (7. / 8. Klasse) sollten die Schüler weniger unterrichtet, eher in ihrem Lernfortgang betreut werden. Zwei Maßnahmen, die Kosten senken und die Schüler freimachen könnten zu bewußtem, kreativem Lernen.
--
Diese Liste wird vom Computer Communications Club (http://www.ccc.at) betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im Nachrichtentext.