Die Presse 14 01 02
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Die "Schärfung des Geistes" getrost der Mathematik überlassen
Ein Umdenken ist in der Schule notwendig, sonst wird Mathematik wie Latein an den Rand gedrängt.
GASTKOMMENTAR VON RUDOLF TASCHNER
Der Autor lehrt an der Technischen Universität Wien und betreibt "math.space", ein Zentrum zur Popularisierung von Mathematik.
Die Presse" vom 3. Jänner zitierte unter dem Titel "Universitäten ratlos: Soll Latein für manche Studien Voraussetzung bleiben" Wolfgang Schütz, Dekan der medizinischen Fakultät, mit einem Satz, den man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte: "Latein ist wichtig als Gegenstück zur Mathematik, zur Schärfung des Geistes." Ein wunderbares Gegensatzpaar: Latein, das Apotropaion (Zaubermittel) zur Schärfung, Mathematik, das Venenum (Gift) zur Verwirrung des Geistes.
Auf der "Seite Drei" der gleichen Ausgabe gab Michael Fleischhacker, einer der scharfsinnigsten Journalisten Österreichs, unfreiwillig ein fulminantes Zeugnis für diesen Nonsens ab: "Und wenn der Nenner die Null ist, das wäre in jedem Grundkurs der politischen Mathematik zu lernen, kommt am Ende immer wieder eine Null heraus, wie weit man auch den Zähler in die Höhe treiben mag." In der gewöhnlichen, unpolitischen Mathematik, ist das Gegenteil wahr: Wenn der Nenner die Null ist, kommt "am Ende" - gemeint ist: als Wert des Bruchs - immer unendlich heraus, wie klein man auch den (positiven) Zähler wählt.
Aber, so könnte sich der Dekan herausreden, das habe er gar nicht gemeint: Nicht als Antithese (Gegenstück), sondern als Komplement (Ergänzung) der Mathematik sei Latein zur Schärfung des Geistes dienlich. Gemeint, aber nicht gesagt. Trotz der im Artikel geäußerten Behauptung, jene, die Latein gelernt hätten, seien auch in Deutsch besser. Eine Behauptung, an die ich mich noch lebhaft erinnere, da sie mein eigener Lateinlehrer mit Verve vertrat. Warum die Fähigkeit, wie ein aufgezogenes Uhrwerk mit affenartigem Tempo die Konjugation von lego im Plusquamperfekt Indikativ Aktiv abzuspulen, den Deutschkenntnissen dienlich ist, erklärte er uns nie - und wir wagten nie, ihn danach zu fragen, zu sehr steckte uns die Angst vor seinen Zynismen in den Knochen. Und niemand behaupte, Lehrer, die ihr Fach als Mittel zur Macht mißbrauchen, gäbe es nicht mehr.
An eben diesem Punkt läuft die Diskussion um Latein schief: Nicht ob, sondern wie die alten Sprachen zu lehren seien, sollte zur Debatte stehen. Drei Thesen hierzu: Erstens: Es hat keinen Sinn, die alten Sprachen beherrschen zu lernen - wozu denn um Gottes Willen? Aber ins Bewußtsein zu rufen, daß die europäische Zivilisation auf Fundamenten ruht, die uns durch Latein und, horribile dictu (furchtbar zu sagen), durch Griechisch und durch Hebräisch vermittelt werden, wäre ein sinnvolles Lehrziel: die alten Sprachen als Brücke zu den Wurzeln der Kultur. Allerdings verspielten die Altphilologen im sturen Beharren auf Grammatik die letzten Trümpfe, mit denen sie noch Vertrauen der Schüler, der Eltern, der Öffentlichkeit für die Ideale ihrer Disziplin gewinnen können.
Zweitens: Präzise Übersetzungen fremdsprachiger Texte ins Deutsche sind bei englischen oder französischen Originalen genauso anspruchsvoll wie bei lateinischen. Allerdings wird dies derzeit in der Schule sträflich zugunsten einer nur oberflächlichen Sprachbeherrschung vernachlässigt.
Drittens: Die "Schärfung des Geistes" darf man, Wolfgang Schütz zum Trotz, getrost der Mathematik überlassen. Allerdings liegt auch hier in der Schule vieles im Argen: Immer noch wird das automatisierte Manipulieren mit Zahlen und Formeln dem Verstehen, worum es eigentlich geht, vorgezogen. Setzt dabei kein Umdenken ein, werden die Mathematiklehrer wie vor ihnen die Lateinlehrer erleben, wie ihr Fach an den Rand bis hin zur Bedeutungslosigkeit gedrängt wird.
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