Süddeutsche 22 01 02

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Lehrpläne

Kompass statt Kanon

Schule muss Erfahrungen vermitteln – nicht nur Wissen eintrichtern


Was ist der Unterschied zwischen dem Jochbein der Katze und dem des Hundes? Fünftklässler an einem Hamburger Gymnasium müssen diese Frage beantworten können. Muss das sein? Müssen Schüler in Zeiten des Internets unzählige Fakten lernen, die sie wahrscheinlich niemals brauchen werden und die sie sich, wenn sie sie doch einmal brauchen sollten, leicht beschaffen könnten?

Eigentlich nicht! Wissen ist heute allzeit und überall verfügbar. Die Schule muss die Schüler nicht für ihr ganzes Leben mit Wissen anfüllen. Stattdessen sollte sie auf den umfänglichen Wissenskanon verzichten und alles Gewicht auf die Vermittlung der Fähigkeit legen, Wissen zu beschaffen, wenn es benötigt wird.

Diese Forderung mag gut klingen, und sie ist leider auch ein wenig modisch. Für viele von uns, die durch die Schule des Wissenskanons geprägt wurden, hat sie doch etwas Irreales. Befürchtungen tauchen auf, dass Bildung als bürgerlicher Wert verloren gehen könnte, dass Unverbindlichkeit und die Ex- und-Hopp-Haltung des Internet an ihre Stelle treten könnten. Was würde eine derartige Neuorientierung der Schule bedeuten?

Um zu sichern, dass die junge Menschen Wissen beschaffen und bewerten können, müssen spezielle Kulturtechniken eingeübt werden. Die gezielte Nutzung von gedruckten oder digitalen Lexika, Archiven und Wissensspeichern aller Art ist nur die offensichtlichste Fertigkeit. Ebenso wichtig ist das Anzapfen institutioneller Quellen wie Museen, Regierungsstellen, Interessenverbänden. Auch Personen – Experten, Betroffene, Zeitzeugen – sind heute viel eher bereit, Auskunft zu geben, als das früher der Fall war. Wie man Befragungen durchführt, damit dabei wirklich etwas herauskommt – da gibt es viel zu lernen.

Das Wissen, welches auf diesen verschiedenen Wegen beschafft wird, ist freilich nicht in dem Maße vorgeklärt und abgesichert wie das herkömmliche schulische Wissen. Schiefe, parteiische, auch schlicht falsche Informationen werden dabei sein. Aber ist das nicht in der Realität, in welche die Schüler entlassen werden, genauso?

Worauf es ankommt: Die Schüler müssen nicht nur lernen, Informationen zu beschaffen, sondern auch zu bewerten – genau das brauchen sie dann auch außerhalb der Schule. Und das ist eine Fähigkeit, die in einer Schule nicht trainiert werden kann, die nur das gesicherte Wissen des Bildungskanons darbietet. Auch fehlt in der Schule normalerweise der Impetus, der aller Wissenssuche vorausgeht, nämlich ein Problem, das mit Hilfe des Wissens gelöst werden soll. In der Schule kommen zumeist Antworten, ohne dass vorher Fragen da gewesen wären.

Anders ist es, wenn die Schüler selbst auf Wissenssuche gehen, um damit eigene Fragen zu beantworten. Wenn sie zum Beispiel bewegt, welche Zukunft bestimmte handwerkliche Berufe haben, dann ist die Bewertung aufgefundener Informationen gewissermaßen eingebaut. Denn ständig werden sie sich fragen: Beantworten diese Informationen unsere Fragen oder nicht, sind sie zuverlässig oder nicht? Irgendwelche schwafeligen Prognosen eines Zukunftsforschers werden sie wohl kaum zufrieden stellen. Und sie werden weitersuchen, um die konkreten Informationen zu erhalten, die ihre Fragen wirklich beantworten. Sie müssen sich vergewissern, ob es eine andere Sicht der Dinge, eine andere „Schule“ gibt. Das beginnt mit der Gegenprüfung in einem zweiten Lexikon.

Dass Wissenssuche und Wissensbewertung in dieser Art gelehrt werden sollten, darüber ließe sich wahrscheinlich rasch Einigkeit erzielen. Aber kann man deshalb auf den schulischen Wissenskanon verzichten? Schließlich könnte ein junger Mensch dann zum Beispiel nie etwas vom Siebenjährigen Krieg oder, beängstigender noch, von einem Neutron gehört haben. Kann er sich dieses Wissen tatsächlich beschaffen, auch wenn er über die Arbeitstechniken dazu verfügt?

Außerdem: Was hilft ihm die bloße Lexikon-Information? Wie soll er damit etwas Sinnvolles anfangen? Muss er nicht dazu etwas von Preußen und Imperialismus beziehungsweise vom Atommodell und von Elektrizität wissen, um die Informationen einordnen zu können? Muss er nicht einen Bezugsrahmen haben, um die isolierten Fakten in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen?

Wer durch unser Bildungssystem geformt wurde, würde diese Fragen wohl spontan und aus tiefster Überzeugung bejahen. Er würde mit Vehemenz ein solides Grundlagen-Curriculum fordern, womit wir wieder bei einem Wissenskanon angelangt wären, vielleicht bei einem schlankeren, aber eben wieder bei einem Wissenskanon.

Was aber geschieht eigentlich, wenn eine durch die Schule gebildete Person sich neue Informationen aneignet? Sie greift auf zweierlei zurück: auf inhaltliche Kontexte und auf bestimmte Interpretationsmuster. Wir wissen zum Beispiel etwas über Friedrich den Großen oder die polnischen Teilungen – Wissen, das uns einen gewissen Kontext für den Siebenjährigen Krieg liefert. Wir haben uns aber auch eine Position erarbeitet zu Machtpolitik, Recht und Krieg als Mittel der Politik, von der aus wir das Geschehen des Siebenjährigen Krieges interpretieren. Doch weder das Kontextwissen noch die Interpretationsmuster setzen einen schulischen Wissenskanon voraus.

Beim Kontextwissen ist das leicht einzusehen. Wenngleich jede Einzel- Information eines Kontextes bedarf, um Sinn zu machen, so gibt es doch keinen „richtigen“ Kontext, keine bestimmte Tiefe des Kontextes, die ein angemessenes Verständnis garantiert. Kontext kann aus unterschiedlichsten Assoziationen gebildet werden, er ist prinzipiell unbegrenzt. Bei den einen gehört die Lage der Bauern in Preußen zum Kontext des Siebenjährigen Krieges, bei den anderen die Jugend Friedrichs oder Imperialismustheorien. Die Reihe möglicher Verknüpfungen lässt sich ins Unendliche fortführen. Bei jeder Informationsbeschaffung erhalte ich nur einen Ausschnitt aus dem möglichen Kontext. Der jeweils adäquate Ausschnitt bestimmt sich dadurch, was man mit dem Wissen anfangen will, ist also von Person und Situation abhängig. Der Kontext, der innerhalb des schulischen Wissenskanons vermittelt wird, ist genauso unvollständig wie jeder andere.

Ganz anders verhält es sich bei den Interpretationsmustern. Hierbei handelt es sich um kulturgebundene Sichtweisen, die man nicht einfach aus dem Internet holen kann. Sie setzen Bildungserfahrungen voraus. Etwa die Geschichtlichkeit menschlicher Existenz zu verstehen, ist eine fundamentale Einsicht beim Hineinwachsen in eine Kultur. Die Muster, nach denen wir Geschichte konstruieren und interpretieren, müssen gelernt werden, wenn man am gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen will. Hier sind Gefühle, Wertungen, persönliche Positionen mit im Spiel. Mit Einstellungen verbundene Interpretationsmuster kann man nur durch eigene Erfahrungen lernen. Diese freilich können und sollen durch die Schule organisiert werden.

Ein Verständnis für Geschichte könnte sich zum Beispiel entwickeln, wenn die Schüler ältere Mitbürger zur Entwicklung der Arbeitsverhältnisse befragen oder die Herkunft lokaler Flur- und Ortsnamen erforschen oder in einem Lager steinzeitliche Lebensformen erproben. Selbstverständlich könnte dabei auch der Siebenjährige Krieg zum Thema werden, etwa bei einem Projekt zur geschichtlichen Belastung des deutsch-polnischen Verhältnisses.

Schule muss Grunderfahrungen organisieren, in denen sich die kulturellen Interpretationsmuster ausbilden können. Auch in der Schule des Wissenskanons gibt es glückliche Momente, in denen – gewissermaßen zufällig – solche Erfahrungen gelingen. Aber genau diese, nicht irgendein Wissen, müssen zum eigentlichen Ziel werden.

Die Schule ohne einen Wissenskanon wird also keine unverbindliche Veranstaltung sein, sie muss sich vielmehr genaue Gedanken darüber machen, welche kulturellen Dimensionen bearbeitet werden sollen und über welche Erfahrungen die Schüler Zugang dazu gewinnen können. Dabei werden auch Daten und Fakten eine Rolle spielen, aber ein Wissenskanon ist dazu nicht notwendig, eher hinderlich.

Eine Schule, in der die entsprechenden Kulturtechniken und die grundlegenden kulturellen Interpretationsmuster gelehrt werden, muss sich um das Wissen nicht mehr sorgen. Die Schüler werden eine Menge Wissen aus ihren Projekten mitnehmen und sie werden sich darüber hinaus das Wissen beschaffen können, das sie brauchen – und das die Schule ohnehin nicht vorhersehen kann.

KLAUS BOECKMANN

Der Autor ist Professor für Mediendidaktik an der Universität Klagenfurt.



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