SZ 22 01 02
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Noten
Das Streber-Stigma
Sehr gute Schüler haben es in Deutschland schwerer als anderswo
Der kleine Julian hat ein gewaltiges Problem: Seine Mitschüler mögen ihn nicht. Das liegt nicht etwa daran, dass der Zwölfjährige gern zuschlägt oder Streiche verpetzt, sondern daran, dass er in Mathe, Deutsch und Latein eine Eins nach der anderen schreibt und sich im Unterricht meldet, wenn er etwas weiß oder wissen möchte. Einen Streber möchte in der Klasse 6 b nun wirklich niemand zum Freund haben. Und so bleibt Julian in seiner Freizeit nichts anderes übrig, als auch die Hausaufgaben als willkommenen Zeitfüller zu sehen – schließlich will sich niemand mit ihm zum Computerspielen oder zum Fußballtraining verabreden.
Isolation als Strafe der Mitschüler für gute Leistungen ist kein Einzelschicksal. In Deutschland, so die vorläufigen Ergebnisse einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung der Universität Chemnitz, führt der soziale Druck innerhalb der Klassengemeinschaft sogar zu einer deutlichen Leistungsminderung. Während in Kanada oder Israel gute Noten das Ansehen innerhalb der Klassengemeinschaft erhöhten, fürchteten deutsche Schüler sich vor allem vor dem Vorwurf, Streber zu sein. Für die Studie wurden mehr als 1500 Jugendlichen in Kanada, Israel und Deutschland befragt. Abschließende Ergebnisse der Untersuchung, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird, werden im April erwartet.
Nach Einschätzung von Klaus Boehnke, Professor für Sozialisationsforschung und Empirische Sozialforschung, führt die Angst vor dem Streber-Vorwurf vor allem bei Mädchen zu einer deutlichen Minderung der Leistungsstärke. Aus Sorge um ihren Ruf in der Klasse schöpften sie ihr Leistungsvermögen nicht aus. Damit ließe sich möglicherweise zum Teil auch erklären, warum Deutschland in der Pisa-Studie so schlecht abgeschnitten habe, meint Boehnke.
Im Sommer 2000 hatte der Chemnitzer Wissenschaftler bereits zwei Pilotstudien durchgeführt. Dabei wurden 196 Chemnitzer Achtklässler aufge fordert, ein so genanntes Ranking der am häufigsten verwendeten, gehörten und besonders gefürchteten Bezeichnungen für Klassenkameraden zu erstellen. Die Auswertung der Auflistungen ergab, dass rund ein Drittel der benutzten Stereotypen in direktem Zusammenhang mit den Leistungen im Mathematikunterricht stehen.
„Streber“, „Klugscheißer“ und „vorlaut“ wurden besonders oft genannt. Im Notenvergleich hatten Mädchen und Jungen zwar annähernd gleiche Mathematik- Zensuren, aber nach Einschätzung von Klaus Boehnke wären die Leistungen der Mädchen ohne das oft mangelnde Vertrauen in die eigenen Leistungen und die Angst vor dem Streber-Vorwurf wesentlich besser als die der Jungen.
Auch wenn mit den Ergebnissen der Chemnitzer Studie Erklärungsansätze für das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei der Pisa-Studie vorhanden
sind: Das mulmige Gefühl falscher Werteordnungen im Klassenzimmer bleibt bestehen. Dabei taucht das Problem sicherlich nicht erst in der aktuellen Schülergeneration auf; Figuren wie der Klassenclown oder eben auch der Streber sind seit Jahrzehnten Fixpunkte des Schauplatzes Klassenzimmer. Warum das Image des Klassenbesten in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern vor allem mit Anbiederung bei den Lehrkräften und fehlender Kameradschaft verknüpft ist, bleibt zu untersuchen. Bis dahin müssen sich Julian und seine Leidensgenossen entscheiden – im schlimmsten Fall zwischen überdurchschnittlichen Zeugnissen und der Akzeptanz der Mitschüler. KATRIN JURKUHN
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