SZ 22 01 02

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Standpunkt: Gewissensspiegel für Reformer

„Die sieben Todsünden der Bildungspolitik“ sind unverzeihlich, aber überwindbar und vermeidlich, meint der Jugendforscher Ingo Richter

Kaum war das wenig ruhmreiche Abschneiden deutscher Neuntklässler in der Pisa-Studie ruchbar geworden, da setzten schon die für Bildungsdebatten typischen Schuldzuweisungen ein. Leitartikler und Leserbriefschreiber stürzten sich mit Lust in das seit Jahrzehnten sattsam bekannte Ritual.

Nun müsse endlich Schluss sein mit der Kuschelpädagogik an den Grundschulen, tönte es aus dem Philologenlager. Reformpädagogen dagegen sahen sich einmal mehr in ihrer Kritik am lehrerzentrierten Unterricht bestätigt. Setzen die einen nun erst recht auf Ganztags- und Gesamtschulen, so beweist Pisa den anderen zweifelsfrei, dass früher, als das dreigliedrige Schulsystem noch richtig funktionierte, alles besser war. Und während eine grüne Bundestagsabgeordnete mehr Projekte an den Schulen fordert, plädiert die Bildungsexpertin der FAZ für Lateinunterricht ab der ersten Klasse des Gymnasiums. Derweil greifen alarmierte Eltern zu Büchern, die Wörter wie „Notstand“ oder „Katastrophe“ im Titel tragen und wenig geeignet sind, Sorgen über die Zukunft ihrer Kinder zu zerstreuen.

Beruhigend ist auch die Lektüre von Ingo Richters Bestandsaufnahme „Die sieben Todsünden der Bildungspolitik“ nicht, die dieser Tage als Taschenbuch erscheint. Obwohl mittlerweile drei Jahre alt, hat Richters Kritik nichts von ihrer Aktualität verloren, wie eben nicht nur die Pisa-Studie, sondern auch die Reaktionen auf sie beweisen. Denn die erste Todsünde, die der Direktor des Deutschen Jugendinstituts in München geißelt, ist die Trägheit. Jener „Kult der Vergeblichkeit“, der besagt, dass alles doch überhaupt keinen Zweck habe. Diesem Kult huldigen nämlich auch diejenigen, denen jede neue Katastrophenmeldung immer nur zur Bestätigung eines sorgsam gehegten Weltbildes dient.

Richter hingegen analysiert in einem wohltuend sachlichem Tonfall, den man angesichts des ziemlich reißerischen Titels nicht erwartet, die Versäumnisse aller an der Bildungspolitik Beteiligten. Und das sind eben nicht nur Politiker, deren Mangel an Glaubwürdigkeit die Erziehung zur Demokratie unterminiere, sondern auch Lehrer, die von der Lebenswelt ihrer Schüler bestenfalls marginale Kenntnisse besäßen.

Dies korrespondiert mit der vierten Todsünde der Bildungspolitik, nämlich dem Hochmut eines Schulsystems, das sich unbeeindruckt von den Veränderungen in der Arbeitswelt zeige. Richter weiß natürlich, dass sich unser Bildungswesen auch deshalb reformresistent zeigen kann, weil es bislang keine überzeugenden Konzepte gibt, die Nützlichkeit der in der Schule vermittelten Kenntnisse und Fähigkeiten zu überprüfen. Aber eben dieser Sachverhalt sollte eigentlich kein Anlass zur Beruhigung sein.

Gleiches gilt in erhöhtem Maße für die nächste Todsünde in Richters Register, der Verschleierung, die jede schulische Leistungsbewertung umgibt. Sein Vorschlag: die üblichen Zeugnisse durch ein differenziertes Zertifikat zu ersetzen, das sich sowohl an einem absoluten Leistungsmaßstab wie auch an der individuelle Entwicklung des Schülers und der Leistungsfähigkeit der Lerngruppe orientiert, und somit prognostische Qualität besitzt.

Nicht immer ist Richter derart konkret. Der erfreuliche Verzicht auf die Formulierung bildungspolitischer Patentlösungen bedingt, dass auf die genaue Darstellung des Problems nicht selten ein Appell, zum Beispiel an die „individuelle und kollektive Verantwortung“ von Lehrenden und Lernenden, folgt. Aber das mindert den Wert der Analyse nicht.

„Die sieben Todsünden sind unverzeihlich, aber überwindbar und vermeidlich“, schreibt Richter im Abschlusskapitel. Zur Bewältigung dieser Aufgabe sei allerdings ein entsprechender politischer Wille auf Bundesebene erforderlich. Wer dieses Buch ernst nimmt, kann nur hoffen, dass es nicht bei Willensbekundungen bleibt.

JOACHIM FELDMANN

INGO RICHTER: Die sieben Todsünden der Bildungspolitik. Beltz Taschenbuch, Weinheim und Basel 2001, 12 Euro



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