ZEIT 30 01 02

http://www.zeit.de/2002/06/Hochschule/200206_b-andereschule.html

Ein Traum von einer Lehranstalt (Teil 1)

Mehr Freiheit und Lust am Lernen, mehr Kontrolle und Wettbewerb. Ein Blick in den Stundenplan der Zukunft

Von Hans-Günter Rolff



Alle reden von anderen, besseren Schulen, aber wie sollen diese aussehen? Nach dem Schock, den die größte internationale Schulleistungsstudie, das Programme for International Student Assessment (Pisa), vor allem in Deutschland ausgelöst hat, wurden zahllose Reformvorschläge veröffentlicht. Doch die meisten greifen zu kurz, weil sie weder die Struktur noch die innere Gestaltung der Schulen im Kern berühren. In Ländern wie Kanada oder Neuseeland, die bei Pisa besonders gut abgeschnitten haben, kann man solche anderen Schulen schon studieren: Sie sind lernende Lehreinrichtungen, die sich aktiv und kontinuierlich weiterentwickeln. Eine solche ideale "Nach-Pisa-Schule" wäre auch in Deutschland möglich und könnte ein Modell für jeden Schultyp sein, von der Grundschule bis zum Berufskolleg. Versuch einer Konkretisierung:

In der "Idealschule" wird das Lernen viel ernster genommen als bisher, es geht um mehr als um Klassenarbeiten, Prüfungen oder Schulabschlüsse. Hier geschieht nichts, was nicht zu sichtbaren Lernerfolgen führt - und zwar bei den lernschwachen Schülern genauso wie bei den talentierten. Jeder Schüler muss sich ein ganz persönliches Lernziel setzen, das er im Laufe eines Schuljahres konsequent verfolgt. Nicht der Lehrer allein überprüft, ob das Ziel erreicht wurde, die Schüler kontrollieren sich auch selbst. Sie führen Lerntagebücher oder legen ein Portfolio an, in dem sie ihre Lernergebnisse dokumentieren.

Die Schüler sollen dabei möglichst umfassend lernen - also nicht nur Wissen und Können, sondern auch soziale Kompetenzen erwerben und ihren Charakter entwickeln. Sie unterstützen sich gegenseitig und lernen voneinander, indem zum Beispiel stärkere Schüler den schwächeren erklären, was diese nicht verstanden haben, und mit ihnen gemeinsam an Lösungen arbeiten.

Die Schülerinnen und Schüler dürfen selbst mitentscheiden, was sie lernen möchten. Ihre Lehrer machen ihnen Angebote zu verschiedenen Lerninhalten. Die meisten davon sind verpflichtend, andere Themen dürfen abgelehnt werden. Die Schüler sollen dabei in erster Linie das Lernen lernen - also im Umgang mit Arbeits-, Präsentations- und Kommunikationstechniken vertraut werden; und sie sollen das Gefühl haben, dass ihnen das Lernen etwas nützt, wenn sie zum Beispiel im Mathematikunterricht nicht nur wichtige Formeln begreifen, sondern ganz nebenbei auch noch verstehen, wie sich der Energieverbrauch eines Familienhaushalts optimieren lässt.

Die 45-minütige Einzelstunde gehört fast der Vergangenheit an, ebenso der kurze Wechsel von Mathe auf Deutsch auf Sport auf Geschichte. In der "idealen Schule" gibt es vor allem Doppelstunden, Blockunterricht und seltener auch den so genannten Epochenunterricht zu einem Thema über mehrere Wochen. Der Frontalunterricht hat zwar weiterhin seine Berechtigung, kommt aber selten vor.

Ein großer Teil des Unterrichts findet in Schülergruppen statt. Dabei erarbeiten sich beispielsweise vier Gruppen die Gründe für den Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, getrennt nach religiösen, sozialen, machtpolitischen oder ökonomischen Aspekten. Je ein Vertreter dieser "Expertengruppen" wechselt dann in eine neue Schülergruppe, in der die unterschiedlichen Sichten ausgetauscht werden.

Die Bildungsministerien liefern dabei das Gerüst eines Lehrplans; dessen Profilierung und Ausgestaltung dagegen bleibt den Schulen selbst überlassen. So können sie rund 60 Prozent der Lehrinhalte frei wählen. Mit besonderen Förderkursen für schwache Schüler und Zusatzangeboten für starke können deren unterschiedliche Talente und Interessen nicht nur bewältigt, sondern produktiv genutzt werden. Das verlangt von den Lehrern diagnostische und psychologische Fähigkeiten, die sie in ihrer Ausbildung (anders als heute) auch vermittelt bekommen.

Sie haben sich von dem Traum verabschiedet, vor ihren Klassen mit ebenso geschliffenen wie belehrenden Vorträgen zu brillieren; stattdessen haben sie gelernt, die Eigenaktivität jedes einzelnen Schülers zu fördern und dessen Lernergebnisse zu sichern. Außerdem sind die neuen Lehrer nicht mehr allein auf ihr Fach und ihre Klasse fixiert, sondern arbeiten eng mit ihren Kollegen zusammen. Im "Klassen"- und "Jahrgangsteam" tauschen sich die Lehrer vor allem über die Lernfortschritte oder Probleme ihrer gemeinsamen Schüler aus und beraten sich gegenseitig. In den "Fachteams" besprechen sie, wie sich bestimmte Inhalte und Methoden in den unterschiedlichen Fächern vermitteln lassen.

Folgt Teil 2




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