ZEIT 30 01 02

http://www.zeit.de/2002/06/Hochschule/200206_b-andereschule.html

Ein Traum von einer Lehranstalt (Teil 2)

In beiden Teams werden die Lehrer zu Lernenden. Sie tauschen ihre besten Ideen, Materialien und Unterrichtssequenzen (best practice) aus, hospitieren beieinander und besuchen Fortbildungen in und außerhalb der Schule. Außerdem überprüfen sie gegenseitig systematisch ihren Unterricht. Sie legen gemeinsam Halbjahresziele fest und entwickeln Indikatoren für den Unterrichtserfolg. Das dient nicht nur der Kontrolle, sondern auch der "Deprivatisierung" der Lehrerarbeit - die Pädagogen werden aus der Einsamkeit ihres Klassenzimmers geholt und machen ihre Arbeit schulöffentlich. Da solche professionellen Lerngemeinschaften aber Zeit kosten, ist die ideale Schule eine Ganztagsschule - auch oder gerade für Lehrer.

Leiter oder Leiterin einer Schule bleibt man künftig nicht mehr automatisch bis zur Pensionierung, sondern zunächst nur für sechs Jahre; danach muss er oder sie neu bestätigt werden. Dafür haben die Schulchefs erheblich mehr Verantwortung und mehr Rechte als heute: Sie sind für das Gesamtbudget ihrer Schule verantwortlich, nehmen Einfluss auf Neueinstellungen, entscheiden über Beförderungen und Prämien für besondere Leistungen ihrer Lehrer.

Außerdem können sie ungeeignete Pädagogen entlassen. Zwar ist man sich bewusst, dass Lehrer für die Ausübung ihres Berufs eine gewisse Sicherheit benötigen. Man erkannte jedoch, dass der Einfluss, den unfähige Lehrer auf das Lebensschicksal der Heranwachsenden haben, nicht zu verantworten ist. Voraussetzung für solche Entlassungen (die im Übrigen selten sind) ist ein transparentes Verfahren, in dem zunächst die Kriterien der Eignung geklärt werden. Der Entscheidung müssen mindestens zwei Unterrichtsbesuche vorausgehen, die die Schulleitung nicht allein vornimmt. Der in der Kritik stehende Lehrer erhält zum Beispiel Auflagen zur Fortbildung und zum Coaching. Wenn nach knapp einem Jahr keine Verbesserung seiner Leistungen zu erkennen ist, steht die Entlassung an.

Ein Lehrerrat bündelt und vertritt die Interessen der Lehrer. Zudem existiert eine Steuergruppe, die für alle Vorhaben der Schulentwicklung verantwortlich ist. Sie organisiert Fortbildung und das Qualitätsmanagement, das auf interner und externer Evaluation beruht. Überdies erarbeitet das Kollegium der "idealen Schule" ein eigenes Leitbild zum pädagogischen Selbstverständnis. Darin wird sehr konkret festgelegt, wie die Lehrer mit Themen wie Schülerorientierung, Anstrengung oder Bewertung tagtäglich umgehen.

Um festzustellen, ob die schuleigenen pädagogischen Grundsätze auch wirksam werden, müssen sie intern überprüft werden. Die Ergebnisse dieser Wirksamkeitsevaluation "gehören" den Lehrern, die sie mit Kollegen und fallweise auch mit der Schulleitung besprechen. Wenn Schüler ihre Lehrer beurteilen, verlangt das Schulethos auch, dass die Ergebnisse mit den Schülern besprochen und Verbesserungsvorschläge gemeinsam beraten werden. Die "ideale Schule" ist keine Familie, in der jeder jeden schützt, sondern eine professionelle Lerneinrichtung. Sie duldet keine Fassaden, sondern praktiziert eine authentische Evaluation, die offen und wirksam ist.

Die "ideale Schule" ist eine selbstständige, teilautonome Schule. Ihr Träger ist entweder der Staat, die Kommune oder eine private Organisation - diesen Trägern und der Gesellschaft gegenüber ist die Schule rechenschaftspflichtig.

Allerdings ist Evaluation aufwändig und wird immer nur ein Hilfsmittel zur Verbesserung des Unterrichts sein. Deshalb kann eine Schule sich nicht ständig selbst evaluieren, sondern muss in jedem Schuljahr Schwerpunkte
setzen: in einem Jahr zum Beispiel auf das Lesen, im anderen auf die Arbeit der Fachkonferenz und deren Auswirkungen auf den Unterricht. Nicht alle Ergebnisse der internen Evaluation müssen veröffentlicht werden. Die Schule braucht einen geschützten Experimentierraum, in dem sie Risiken eingeht und auch einmal etwas ausprobieren kann.

Darüber hinaus ist die Schule verpflichtet, alle fünf Jahre eine externe Evaluationsgruppe einzuladen, die die interne Evaluation überprüft und darüber hinaus eigene Schwerpunkte setzt. Die Indikatoren dafür können die Kultusministerien zusammen mit den Schulvertretern erarbeiten und veröffentlichen. Als Bezugsnormen vorstellbar sind aber auch die großen Leistungsvergleichsstudien wie Pisa oder Timms.

Die externen Evaluationsteams machen ihre Ergebnisse öffentlich, zumindest für die Lehrerkollegien und die Elternvertreter. Sie geben der Schule konkrete Empfehlungen für das Qualitätsmanagement. Sie können auch über die Schulaufsicht Auflagen zur Abstellung von Schwächen machen, die sie nach einem halben oder ganzen Jahr überprüfen. Aber sie schreiben der "idealen Schule" nicht vor, auf welche Weise und mit welchen Mitteln sie Abhilfe schaffen soll.

So weit das Idealbild. Der Weg dahin würde wohl in Deutschland zehn bis zwölf Jahre dauern. Doch schon heute erproben einige Schulen in innovativen Netzwerken vieles von dem, was die "ideale Schule" ausmacht. Auch die Schulentwicklungsprojekte mancher Bundesländer - in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Bayern - sorgen für Aufbruchsstimmung. Bleibt zu hoffen, dass diese lange genug erhalten bleibt.

Der Autor ist Leiter des Instituts für Schulentwicklungsforschung in Dortmund




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