Frankfurter Rundschau 1/2/02
 
Zeugnis

Au weia, heute gibt's schon wieder Zeugnisse. Halbzeit im Schuljahr. Das bildungspolitische Armutszeugnis für Deutschland wurde ja schon vor Weihnachten ausgestellt. Jetzt bricht die Zeit der Sorgentelefone und Schulpsychologen an. Und die Kultusminister beschwören Eltern, nach dem Blick aufs unerfreuliche Zeugnis ihre Kinder zu ermutigen statt zu strafen.

Das Zeugnis, so lehrt der Duden, ist eine "urkundliche Bescheinigung, besonders mit Bewertungen der Leistungen eines Schülers". Auf ein solches Schriftstück, tadellos in der Form und mit einigermaßen wohlwollend gerechten Angaben über Kenntnisse und Fähigkeiten, hat auch ein jeder Arbeitnehmer Rechtsanspruch, erklärt Meyers Enzyklopädisches Lexikon.

Die Etymologie verweist auf die Verwandtschaft mit ziuc (Zeuge) und dem spätmittelhochdeutschen geziugnusse, das sich laut Grimms Deutschem Wörterbuch Ende des 13. Jahrhunderts als Erweiterungsform herausschält und aus dem Sprachschatz nicht mehr zu verdrängen ist. Wer heute verbale Zeugnisse ausstellt, darf keinen Stuss reden: "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten", warnt das Alte Testament.

"Die Bekräftigung der Aussage eines anderen vermöge seiner eigenen Erfahrung", so definierte Johann Christoph Adelung im Grammatisch-Kritischen Wörterbuch vor rund 200 Jahren. Wie erklärt sich also die Fünf in Mathe? Da beruft sich der Herr Sohn auf das Zeugnisverweigerungsrecht und schweigt zur Sache. Den Eltern bleibt nur eines: mürrisch das Zeugnis ablegen. (feu)