Süddeutsche vom 05 02 02

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Wo Gesamtschule kein Schimpfwort ist

Förderung für die Schüler, Freiheit für die Lehrer: Es gibt viele Gründe, warum Schweden bei Pisa so gut abgeschnitten hat

Von Jeanne Rubner

Stockholm ist auf sieben Inseln gebaut, und die zahlreichen Wasserläufe kamen den Bildungsexperten gelegen: Als sie Mitte der 50er Jahre die schwedische Hauptstadt in Nord und Süd teilten, konnten sie sicher sein, dass kaum Bewohner ihre Kinder über die Schleusen an der Altstadt schicken würden – das schien einfach zu kompliziert. Im Norden blieben die Schüler auf den bis dahin üblichen unterschiedlichen Schultypen; im Süden dagegen wurden sie alle gemeinsam unterrichtet. Als die Fachleute 1963 den Schulversuch auswerteten, waren sie selbst überrascht. Nord- und Südkinder schnitten bei Tests gleich gut ab. Jene, die Gesamtschulen besucht hatten, erhielten sogar bessere Noten im Sozialverhalten – sie galten als kooperativer und weniger egoistisch. Nachdem die Studie des Stockholmer Bildungsministeriums veröffentlicht war, gab es keine Diskussion mehr im Land: Man war sich weit gehend einig, die jungen Schweden fortan bis zur zehnten Klasse gemeinsam zu unterrichten.

Verkorkster Start

Eine Gesamtschule, in der Schüler nicht sitzen bleiben und keine Noten bis zur neunten Klasse erhalten – das klingt zumindest für deutsche Ohren erst einmal nicht nach dem Patentrezept für ein leistungsorientiertes Schulsystem, sondern eher nach der Wunschliste linker Bildungspolitiker. Warum aber schafft es das Gesamtschul-Schweden immer wieder ins Spitzenfeld bei den internationalen Leistungstests, zuletzt bei „Pisa“? In Deutschland dagegen geriet die Gesamtschule in die politische Schusslinie. Ihre Einführung war verkorkst, auch weil sie parallel zum herkömmlichen dreigliedrigen System entstand. 1969 in den Hochzeiten der Bildungseuphorie vorgeschlagen, galt sie den einen als Reformmodell, um sozial benachteiligten Schichten ohne Leistungsdruck den Weg zum Abitur zu ebnen. Die anderen dagegen verspotteten sie als Hätschelkind sozialdemokratischer Politik. Das Ergebnis jahrzehntelanger ideologischer Debatten: Nach Schätzung des Philologenverbands krebsen etwa 80 Prozent der Gesamtschüler auf Hauptschulniveau, ursprünglich war ein ausgewogenes Drittelverhältnis angepeilt gewesen. Einer Studie des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung zufolge liegen die Gesamtschüler in ihren Leistungen weit hinter gleichaltrigen Gymnasiasten zurück – in Mathematik beträgt die Differenz sogar bis zu drei Schuljahre. Selbst mit den viel gerühmten sozialen Kompetenzen der Gesamtschüler ist es nicht weit her. Der Berliner Studie zufolge sind sie – anders als in Schweden beobachtet – egoistischer als ihre Altersgenossen an anderen Schulen.

Ohne Glocke lernen

Dass aber nicht das Prinzip Gesamtschule das Problem darstellt, lässt der Blick nach Schweden und übrigens in andere Pisa-Spitzenreiter wie Finnland, Japan oder Kanada vermuten, wo die Einheitsschule auch üblich ist. Das schwedische Rezept hat zudem in den letzten zehn Jahren auf interessante pädagogische Konzepte gesetzt, vor allem aber auf eine weit gehende Autonomie der Schulen. „Futurum“, eine der Gesamtschulen in dem Städtchen Balsta, eine knappe Autostunde nördlich von Stockholm, mag besonders vorbildlich sein. Aber, so heißt es bei der schwedischen Lehrergewerkschaft „Lärärförbundet“, sie ist dennoch typisch für eine gewisse Aufbruchstimmung im gesamten Land. In den renovierten, licht gebauten Holzhäusern klingelt keine Schulglocke. Es gibt keine Klassenzimmer, die Kinder der ersten bis zur zehnten Klasse arbeiten vielmehr in Gruppen zusammen, und je älter sie sind, umso gemischter sind die Teams. „Das verhindert Mobbing und erzeugt ein Familiengefühl“, erklärt Biologielehrer Hans Ahlenius das Konzept. Jeweils 80 Schüler werden von einem Pädagogenteam betreut. Etwa die Hälfte der Unterrichtszeit geht für Erklärungen an der Tafel drauf, die andere Hälfte der Zeit arbeiten die Schüler selbstständig – was auch heißt, dass sie während der „Basisstunden“ durchaus entscheiden können, ob sie jetzt lieber Schwedisch, Mathematik oder Englisch üben wollen. Ohne „Loggbok“ freilich wäre das kaum denkbar. In diesem Logbuch sind die Lernziele für die Woche festgehalten, am Wochenende prüft der Kontaktlehrer, was abgearbeitet wurde, jeden Montag dürfen die Eltern einen Blick hineinwerfen. Seit drei Jahren praktiziert Futurum diese Selbstständigkeit, und David Larsson, ein besonders begabter Schüler aus der achten Klasse, findet die neue Freiheit toll: „Wir arbeiten viel besser als früher.“ Schlecht sei das System allerdings für die Mitschüler, die nicht selbstständig genug seien. Das trifft, so schätzt eine Pädagogin, auf etwa 15 bis 20 Prozent zu, die speziell gefördert werden müssen. „Wenn die Leistungen schlecht sind, dann besprechen wir das im Team“, sagt Ahlenius – was freilich auch bedeutet, dass die Lehrer im Gegensatz zu den hiesigen Gepflogenheiten sehr viel miteinander reden und auch einen Großteil ihrer Arbeitszeit von 43 Stunden (während der Schulzeit) an der Schule verbringen. Ebenfalls im Unterschied zur hier zu Lande angestrebten Angleichung in der Gesamtschule, bekennen sich die Schweden zu Leistungsunterschieden. Und während der deutsche Interessenverband „Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule“ beklagt, dass man zu sehr auf „Mathe, Englisch und Deutsch starrt“, dann tut man genau dies in Schweden, wo der Fokus auf den drei Hauptfächern liegt. Denn am Ende der zehnten Klasse müssen alle Schüler in diesen drei Disziplinen einen nationalen Test ablegen. Schwedenweit werden die Ergebnisse aller Schulen im Internet veröffentlicht, nicht um daraus ein Ranking zu erstellen, wie Mats Ekholm, Leiter der neu gegründeten Nationalen Bildungsagentur betont. Schulen mit schlechten Ergebnissen werden jedoch von der Behörde beraten, damit sie besser werden. Es scheint also, als ob es viele Rezepte für das – trotz (oder dank?) Gesamtschule – erreichte schwedische Bildungswunder gebe. Eines dürfte das hohe Maß an Autonomie sein, welches der Staat seinen Schulen gewährt – ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. Ein anderes mag die individuelle Förderung sein: Im Primarbereich betreut ein Pädagoge 13 Schüler, in Deutschland sind es 21. Die Schweden geben 6,8 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Bildung aus, hier zu Lande sind es 4,6 Prozent. Wenn Deutschland mithalten wolle, rechnet der Bildungsforscher Klaus Klemm von der Universität Essen vor, dann müsste es für Schule und Hochschule zusammengenommen hundert Milliarden Mark jährlich mehr investieren. Nicht zuletzt aber dürfte sich die positive Einstellung der Schweden zur Bildung auswirken. Möglichst früh anfangen, sagen sie zum einen. Seit fünf Jahren obliegen die „Vorschulen“ für bereits einjährige Kinder dem Bildungs- und nicht mehr dem Sozialministerium, seit zwei Jahren befolgen sie einen nationalen Lehrplan. Berufstätige, Arbeitslose und Eltern mit mehreren Kindern haben neuerdings Anrecht auf einen Vorschulplatz, für den sie maximal 200 Euro bezahlen müssen. Zum anderen kommt schwedischen Bildungsministern ein hoher politischer Rang zu. Zahlreiche Stockholmer Regierungschefs hatten einmal diesen Posten inne. Einem deutschen Bildungspolitiker ist der Sprung auf den Kanzlersessel bislang nicht gelungen.


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