S.g. Kollege Wittek!

Es wird wohl seine Richtigkeit damit haben, sich bei der sog. "Vergangenheitsbewältigung" auch mit dem Unrecht auseinanderzusetzen, das einem angetan wurde. Die Analogie mit "gewöhnlichen" Verbrechensopfern zeigt, daß solches zur Heilung der Seele notwendig ist - es gilt also wahrscheinlich auch für die Seele eines Volkes.
Nichtsdestoweniger interessiert mich persönlich der andere Aspekt wesentlich mehr, nämlich das Unrecht, das man (= mein Land, mein Volk) anderen angetan hat. Aus diesem Grund habe ich auch in meinem ursprünglichen Beitrag "Argumentationshilfe" vom 2.2. die Benes-Dekrete mit den HabsburgerInnen-Gesetzen verglichen. Bis jetzt hat sich noch niemand im LF gefunden, der diese Parallele widerlegt hätte.

Als historisch interessierter Mensch möchte ich noch auf drei Punkte des von Ihnen gefundenen Artikels eingehen:

1. Der Luftkrieg spielt in der dt. Literatur keine Rolle: Das gilt auch für die Luftschlacht um England, insbesondere deren zweiten Teil ab Winter 1940 mit der Bombardierung der englischen Städte. Machen Sie die Probe aufs Exempel und fragen Sie Bekannte oder SchülerInnen Ihrer Wahl nach der Bedeutung des deutschen Verbs "coventrieren"!
Guernica wird einigen aus der Kunstgeschichte bekannt sein, aber wer weiß hierzulande etwas über den Spanischen Bürgerkrieg? George Orwell hat ein Buch darüber geschrieben - "Homage to Catalonia" - aber kennen Sie deutsche Literatur darüber? Vor zwei oder drei Jahren gab es im ORF einen Beitrag über noch lebende österreichische Spanienkämpfer - jahrzehntelang hatte sich bis dahin niemand für sie interessiert, und die Doku war auch nur möglich dank der Recherchearbeit eines der ihren.

2. Zum Stichwort "Vertriebene" fallen mir die Kriegsgefangenen ein. Der Film über die "Mühlviertler Hasenjagd" hat ein Thema angesprochen, welches ebenfalls literarisch total unterbelichtet ist und bestenfalls anekdotisch vorkommt, nämlich das Schicksal der russischen Kriegsgefangenen (und Verschleppten - auch Frauen!) bei uns. Ich selber habe mindestens ein halbes Dutzend Bücher gelesen über die Erlebnisse deutscher Kriegsgefangener in Russland - bis jetzt ist mir nicht ein Gegenstück dazu untergekommen. (Vielleicht sind diese Bücher auch bloß nicht ins Deutsche übersetzt worden - Russisch kann ich nicht).
Dies als Hinweis darauf, daß es keineswegs fehlt an Unterlagen über die "eigenen" Leiden
- nur über die fremden Leiden weiß man viel zu wenig.

3. Ad "Wilhelm Gustloff": Habe gerade ein in mehrfacher Hinsicht erschütterndes Buch fertig gelesen - "Iron Coffins" von Herbert A. Werner, einem der wenigen deutschen U-Boot-Kapitäne, die den Krieg überlebt haben. (Er wanderte bald nach dem Krieg nach Amerika aus, deshalb erschien das Buch 1969 auf Englisch.) Der U-Boot-Krieg kostete ca. 30.000 deutschen Soldaten der Kriegsmarine das Leben, und es gibt Dutzende Bücher darüber.
Ebenfalls gestorben sind im U-Boot-Krieg allerdings auch ebenfalls ca. 30.000 Handelsschiff-Matrosen der von den deutschen U-Booten torpedierten Frachter und Tanker - allesamt Zivilisten! Bisher ist mir noch kein einziges Buch von dieser Seite des Krieges untergekommen. Und allen jenen, die empört darauf hinweisen, daß die Engländer (und im späteren Verlauf des Krieges auch die Amis) die deutschen Städte bombardiert haben, ist wahrscheinlich gar nicht bewußt, daß sich der U-Boot-Krieg ausdrücklich gegen die feindliche Handelsflotte und nicht gegen die Kriegsflotte richtete - Stichworte Geleitzug-Schlachten und Rudeltaktik - somit dezidiert gegen Zivilisten!


MfG Erich Wallner




Günter Wittek schrieb:
>
> Lieber Kollege Wallner
>
> für eine redliche, tabufreie Auseinandersetzung und
> Geschichtsaufarbeitung habe ich jetzt folgendes gefunden; es wird
> helfen, dass wir die offene Frage der deutschen Opfer nicht den
> falschen Leuten überlassen, damit sie deswegen zu ihren zweifelhaften
> Ergebnissen kommen. Übrigens wurden in der DDR zumindest auch schon in
> den 80er Jahren die Kriegsverbrechen der Briten, der RAF (Royal Air
> Forces) bei der Bombardierung Dresdens, Bomben auf den
> Flüchtlingsstrom (der "Frostbeulenmarsch"), aufgearbeitet und
> Erinnerungen wurden publiziert. Diese Tradition der Aufarbeitung setzt
> nun offenbar Grass mit einem weiteren wichtigen Kapitel fast
> "vergessener" Geschichte fort. Auch wenn hier im Krieg "vollendete
> Tatsachen" geschaffen wurden (und kaum jemand an Wiedergutmachung
> denken wird), verschweigen oder ausklammern sollten wir diese
> Ereignisse jedenfalls nicht!
>
> mfG
> Günter Wittek
>
> **************
>
> Erinnerungskultur im Krebsgang
>
> gefunden auf:
> http://www.3sat.de/kulturzeit.php3?url=/themen/28884/index.html
>
> "Warum erst jetzt?" Mit dieser Frage beginnt Günter Grass seine
> Novelle "Im Krebsgang". Eine Frage, die direkt ins Zentrum führt, wie
> deutsche Geschichte aufgearbeitet wird. Denn wenn Grass beschreibt,
> wie im Januar 1945 ein sowjetisches U-Boot das Passagierschiff
> "Wilhelm Gustloff" torpediert und die etwa 9.000 ostpreußischen
> Flüchtlinge in der kalten Ostsee sterben, dann greift er nicht nur
> eine der größten Schiffskatastrophen auf, sondern auch ein seit vielen
> Jahrzehnten weitgehend totgeschwiegenes Thema.
>
> Grass erzählt das Schicksal der vertriebenen und vergessenen Menschen.
> Vehement verweist er damit auf einen Paradigmenwechsel in der
> deutschen Erinnerungskultur. Seine Generation sei nach dem Krieg
> zuallererst mit den Verbrechen konfrontiert gewesen, für die Deutsche
> die Verantwortung hatten - nach wie vor das dominierende Verbrechen.
> "Aber dass dieses Unrecht, das wir verursacht haben, weiteres Unrecht
> zur Folge hatte, nämlich die Vertreibung, das bleibt am Rande - also
> ausgeblendet -, ist natürlich auch Thema und gehört dazu."
>
> Ein linkes Tabu
> In der Tat: Unter Intellektuellen hat kaum einer das Schicksal der
> Vertriebenen in den Mittelpunkt gerückt. Zu schnell war der Verdacht
> da, dass dem Revanchismus ein Forum geboten werde und die Opfer des
> Holocaust in Vergessenheit geraten würden. Ausnahmen waren
> Schriftsteller wie Alexander Kluge, Siegfried Lenz, Walter Kempowski
> oder W.G. Sebald, der 1998 mit der Überlegung, dass der Luftkrieg in
> der deutschen Literatur keine Rolle spiele, eine heftige Diskussion
> auslöste.
>
> Zwar meint etwa Marcel Reich-Ranicki, dass es nie ein Tabu gegeben
> habe und Grass das auch vor 30 Jahren hätte schreiben können. Doch für
> viele war es eben doch ein Tabu. Auch für Günter Grass. Erst jetzt,
> nach einer breiten Diskussion über die Verbrechen der Deutschen wird
> es möglich, über das zu reden, was Deutsche erlitten haben. Bislang
> war dieser bereich von den Rechten besetzt. Sie konnten das Schicksal
> der Vertriebenen für ihre Märtyrerlegenden missbrauchen, weil die
> Linke das Thema vernachlässigt hat. Grass appelliert, das Thema nicht
> mehr dem rechten Rand zu überlassen. Das Leid der Vertriebenen muss
> ins Bewusstsein der deutschen Gesellschaft gerufen werden, behutsam,
> die Gefahr rechter Vereinnahmung im Blick. Zwei Schritte vor und, wenn
> es muss, einen zurück - im Krebsgang eben.
>
> Kulturzeit spricht mit dem Historiker Norbert Frei über deutsche
> Erinnerungskultur.
>
> --
> Diese Liste wird vom Computer Communications Club (http://www.ccc.at)
> betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein
> e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im
> Nachrichtentext.
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