PRESSE 13 02 02

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42 Prozent der Jugendlichen lesen nur durch Zwang

Expertenstreit um die Bildungsstudie "Pisa". Erste euphorische Kommentare werden nun relativiert.

VON ERICH WITZMANN UND ROBERT BENEDIKT

WIEN/INNSBRUCK. Österreich hat keinen Grund, angesichts der Ergebnisse der Pisa-Studie der OECD mit Häme zu den deutschen Nachbarn zu blicken. Zu diesem Schluß kommt Manfred Steinlechner, Direktor der Berufspädagogischen Akademie in Innsbruck, und seine Meinung deckt sich auch mit anderen österreichischen Pädagogen. "Ein nüchterner Blick auf das Kleingedruckte der gut 350 Seiten umfassenden Pisa-Studie genügt", so Thomas Kubelik, Forschungsmitarbeiter am Wiener Uni-Institut für Germanistik, "um vieles in ein helleres, wenn auch keineswegs rosigeres Licht zu tauchen."


Die im Dezember 2001 veröffentlichte Bildungsstudie Pisa (Programme for International Student Assessment) hat in Österreich zu euphorischen Reaktionen geführt. Österreichs Schüler gehörten zu den hellsten Köpfen der Welt, hieß es. Vor allem die gegenüber Deutschland erzielten besseren Werte in der Lesekompetenz wurden hervorgehoben. Wie Steinlechner im Gespräch mit der "Presse" betont, weise allerdings auch das österreichische Schulsystem grobe Mängel auf. 14 von 100 Schülern könnten hierzulande einfache Texte nicht verstehen und seien damit "nicht zukunftsfähig". (...)

Mit Abstand am teuersten

In Österreich wurden rund 6000 Schüler auf ihre Kenntnisse in den Fächern Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften geprüft. Steinlechner: "Während das Pisa-Ergebnis in Deutschland (Platz 22) einen schockähnlichen Zustand hervorrief und heftige Diskussionen auslöste, lehnen sich die Verantwortlichen in Österreich zufrieden zurück. Dafür besteht aber keine Veranlassung." Steinlechner weist darauf hin, daß das heimische Bildungssystem im OECD-Vergleich mit Abstand das teuerste ist. Bis zum 15. Lebensjahr werden für jeden Schüler 71.387 Dollar (82.809 €/1,14 MillIionen
S) ausgegeben. In Finnland, das auf Platz eins der Pisa-Studie liegt, betragen diese Kosten nur 45.363 Dollar (52.621 €/724.066 S). (...)

Literatur etwas Heiliges?

Ein zusätzlicher Indikator dafür, daß das heimische Schulsystem krankt, ist nach Ansicht Steinlechners ein weiteres Pisa-Ergebnis: 42 Prozent der Jugendlichen geben an, nur aufgrund von Zwang zu lesen. Dazu der Pädagoge: "Literatur wird an unseren Schulen als etwas Heiliges vermittelt. Die Lehrer sollten aber im Interesse ihrer Schüler mit diesen Texten viel lustvoller und respektloser umgehen." (...)

Die Pisa-Studie wirft nach Kubeliks Analyse ein schlechtes Licht auf die Praxis der Erziehung in österreichischen Familien. Die teilnehmenden Schüler wurden befragt, wie häufig Eltern mit ihnen Schulleistungen besprechen und sich Zeit nehmen, um einfach nur mit ihnen zu reden.

Aus den Antwortkategorien nie oder fast nie, mehrmals in der Woche, einmal oder mehrmals im Monat wurde der Index der sozialen Kommunikation so erstellt, daß der OECD-Mittelwert bei 0 liegt. Österreich liegt mit einem Wert von -0,27 vor Neuseeland (-0,28) und Australien (-0,31) an drittletzter Stelle. Ein ähnlicher Befund zeigt sich beim Index der kulturellen Kommunikation, bei dem Österreich nur den 23. Platz unter den 28 untersuchten Ländern belegt.

Kubelik weist darauf hin, daß Österreich im internationalen Vergleich ein restriktives Privatschulgesetz hat. Die fünf Prozent der österreichischen Privatschulen erreichen im Lesetest aber signifikant höhere Werte als öffentliche Schulen. Und außerdem widerspricht der Germanist entschieden dem Abteilungsleiter im Wiener Stadtschulrat, Karl Blüml, daß in der OECD-Studie Länder mit einem nichtdifferenzierten Schulsystem (Gesamtschule) eindeutig besser abschneiden. Dazu Kubelik: "Island, Frankreich und Italien haben mit gesamtschulähnlichen Systemen beispielsweise schlechter abgeschnitten als Österreich, das differenziert. Andererseits schneiden in Deutschland die Gymnasien bei vergleichenden Untersuchungen stets besser ab als Gesamtschulen und die Länder Bayern und Baden-Württemberg mit ihren stark gegliederten Systemen besser als die nördlicheren Gesamtschul-Bundesländer."

In seiner Studie kommt Kubelik zur Auffassung, daß die Pisa-Studie "politisch bedenklich" ist. Denn sie legt es nahe, daß fremde Systeme als nachahmenswerte Vorbilder unreflektiert zur Orientierungsnorm erhoben werden.

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