Frankfurter Rundschau 14 02 02
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Hier fehlt alles, was deutschen Schulmeistern heilig ist
An Schwedens Schulen sind neun Jahre gemeinsamen Lernens einfach normal / Respektable Leistungs-Ergebnisse
Von Karl-Heinz Heinemann
STOCKHOLM. Anderthalb Stunden hat der 14-jährige David Larsson durch seine Schule geführt und in flüssigem Englisch all die vielen Fragen ausführlich beantwortet. Die Besucher sind angetan vom lichten und weiten Großarbeitsraum der "Pink-Schule", dem Lehrerzimmer und den Cafeterien. David hat Musik- und Naturwissenschaftsräume, die Bibliothek und den Still-Arbeitsraum, genannt das "Martyrium", gezeigt. Doch nun wollen die Gäste auch einmal "richtigen" Unterricht sehen. David stutzt. Was denn noch? Das war doch alles "richtiger" Unterricht: Mädchen, die im Martyrium in Bücher vertieft waren, Schüler, die in der Ecke saßen und mit einer Lehrerin etwas besprachen, die Gruppen, die gemeinsam am Computer arbeiteten und die im Naturwissenschaftsraum tüftelten. Oder die älteren Schüler in der Bibliothek, die jüngeren aus Büchern von Astrid Lindgren vorlasen, deren Tod das beherrschende Thema ist. Gerade den Leseunterricht könne man so sehr gut altersgemischt gestalten, indem die älteren den jüngeren etwas vorlesen, erläutert Hans Ahlenius, der Lehrer, der die Gruppe von deutschen Journalisten und Gewerkschaftern durch die Schule begleitet.
In der Futurum-Schule in Bålstra, fünfzig Kilometer nordwestlich von Stockholm, entspricht eigentlich kaum noch etwas der gründlich deutschen Vorstellung von Schule. Als die Gemeinde Håbo vor sechs Jahren ihre Schule renovieren wollte, haben sich erst die Lehrerinnen und Lehrer Gedanken gemacht und ausprobiert, wie sie das Innere des Gebäudes künftig gestalten wollten. Herausgekommen ist die "Schule 2000", ein Konzept, das schon mehr als zehn Prozent aller schwedischen Schulen übernommen haben. Wie überall in der schwedischen "Grundschule" sind hier von den Sechsjährigen in der Vorschule bis zu den Sechzehnjährigen in der neunten Klasse alle Schüler zusammen. Die rund 1000 Schüler wurden in sechs Einheiten aufgeteilt, mit etwa 160 Schülern aller Altersgruppen und 16 Lehrkräften. Jede Einheit hat als Zentrum einen rund 250 Quadratmeter großen Arbeitsraum, um den herum sich - durch Glaswände getrennt - kleinere Gruppen- und Werkräume, Ateliers und Lehrerzimmer gruppieren. Jahrgangsklassen gibt es nicht mehr, nur zwischen den Jüngeren bis Klasse vier und den Älteren wird noch unterteilt. Jeweils 16 Schülerinnen und Schüler aus der älteren oder der jüngeren Gruppe werden von einem Lehrer in Kontaktgruppen betreut. "Das ist sehr angenehm", meint Marie, eine Mathe-Lehrerin, die neben ihrem Fach noch eine Gruppe betreut, wie alle anderen Lehrerinnen auch. Es kommen in jedem Jahr nur drei oder vier Neue in ihre Gruppe, genauso viel, wie sie dann verlassen.
Jeder Schüler konnte sich testen lassen, welche Lernumgebung er braucht: Der eine muss sich bewegen, der andere still sitzen, der eine hört Musik beim Lesen, der andere lernt im Gespräch, die einen brauchen viel Licht und Luft, die anderen ar-beiten lieber im Halbdunkel. All das ist in dieser Lernlandschaft möglich.
Jeder Schüler hat seinen Stundenplan und sein "Logbuch", in das ihm sein Tutor Woche für Woche seine Aufgaben in den verschiedenen Fächern hineinklebt. Wie nun gearbeitet wird, in großen oder kleinen Gruppen, individuell oder paarweise, das wechselt. Natürlich stellt sie sich noch vor ihren Deutschkurs mit Schülern aus dem fünften und sechsten Schuljahr, um ihnen etwas Grammatik zu erklären, sagt Ingbritt Borg, die Deutschlehrerin. Aber dann arbeiten die Schüler eben in Gruppen weiter. Etwa die Hälfte des Unterrichts findet noch in "Instruktionen" statt, in denen die Lehrerin etwas erklärt, meint Agneta Angerlund, eine der Initiatorinnen dieser Schule.
In der Schule läuft man nur in Hausschuhen oder auf Socken. Es ist sauber, keine Graffiti an den Wänden, kein Geschrei auf den Gängen, aber Arbeitsgeräusche aus allen Ecken. Von morgens sechs Uhr bis abends um halb sieben ist hier Betrieb. Computer, Musikinstrumente, alles ist für die Schüler in der Freizeit frei zugänglich. Mutwillige Zerstörungen - Fehlanzeige. Unterricht findet zwischen acht und halb drei statt, dazwischen gibt es Mittagessen, kostenlos für alle.
Seit ein paar Jahren haben die schwedi-schen Lehrer keine feste Unterrichtsver-pflichtung mehr, sondern Anwesenheitszeiten von mindestens 35 Stunden. Jeder hat seinen Schreibtisch in einem Lehrerzimmer mit Sitzecke, Konferenztisch, Computern, Fax und Telefon. Würde sie noch so arbeiten müssen wie in Deutschland, jeder Lehrer für sich, würde sie sofort kündigen, meint Marie, eine der auch in Schweden raren jungen Lehrerinnen für Mathe und Werken. Ihr Gehalt ist um einiges schlechter als das ihrer deutschen Kolleginnen, doch dafür kommen hier im Landesdurchschnitt in der Grundschule nur 13 Schüler auf einen Lehrer, in Deutschland sind es 21.
Und wie machen sie das, so heterogene Lerngruppen zu unterrichten? Ingbritt Borg, die angegraute Deutschlehrerin, lacht etwas irritiert. Tja, wieso denn nicht, fragt sie zurück. Hier bekommt doch jeder Schüler seinen Arbeitsplan, sie geht herum, hilft, wo es nötig ist. Noten gibt es auch nicht bis zur Klasse 8. Dafür aber ausführliche Diagnosen und Gespräche mit Schülern und Eltern.
Sie sind es seit Jahrzehnten so gewohnt, dass sie niemanden an eine andere Schule abgeben können, sondern sich um jeden Schüler kümmern. Am Ende des neunten Schuljahres stehen landesweit zentrale Tests in Mathe, Englisch und Schwedisch. Über 90 Prozent schaffen diesen Abschluss und wechseln dann in die Gymnasium genannte Oberstufe mit beruflichen und allgemein bildenden Zweigen. An deren Ende haben etwa drei Viertel aller Schüler eine Studienberechtigung.
Ein Besuch im Stockholmer Lehrerbildungsinstitut offenbart uns auch kein Geheimrezept. Vielleicht lernen die angehenden LehrerInnen mehr diagnostische Fähigkeiten, aber sonst wird hier auch nur mit Wasser gekocht. Sicher, nicht an allen schwedischen Schulen sieht es so aus wie in Bålstra. Schweden liegt in der Pisa-Ländervergleichsstudie auf Platz acht und damit, wie auch andere skandinavische Länder, vor den deutschen Schülern.
Deshalb pilgern jetzt Bildungspolitiker nach Skandinavien. Nicht zum ersten Mal erhofft man sich Erleuchtung aus dem Norden. Schon Ende der sechziger Jahre kamen die Experten des deutschen Bildungsrates, unter ihnen Hans-Günter Rolff, der Dortmunder Schulforscher, der auch auf dieser Exkursion dabei ist. Schweden hatte zu Beginn der sechziger Jahre das gegliederte Schulsystem abgeschafft und eine gemeinsame Volksschule für alle Kinder eingeführt. Seither besuchen alle den gleichen Unterricht bis zum Ende der neunten Klasse, es gibt nicht einmal unterschiedliche Leistungskurse. Sitzen bleiben und Noten, alles, was deutschen Schulmeistern heilig ist - in Schweden verzichtet man darauf und erzielt dennoch bessere Ergebnisse. Das Schulsystem in Schweden entspricht eher der polytechnischen Oberschule als der Gesamtschule in West-deutschland. Einige der deutschen Besucher sind deprimiert. Zwischen dieser schwedischen Schule und dem deutschen Schulalltag liegen Welten, da werde man nie hinkommen, meint Klaus Klemm, Bildungsforscher aus Essen.
Auch in Schweden wird im September gewählt. Bildung ist ein Top-Thema. Die Besucher treffen Reichtagsabgeordnete der liberalen und "gemäßigten" konservativen Partei. Sie kritisieren nicht die Ein-heitsschule, sondern sie kreiden ihr an, dass immer noch nicht alle Schüler den gymnasialen Abschluss schaffen. Privat-schulen gibt es auch, sie werden voll vom Staat finanziert, dürfen dafür aber kein Schulgeld nehmen. Dennoch sind es nicht mehr als drei bis vier Prozent, die sie den öffentlichen Schulen vorziehen.
Seit Mitte der neunziger Jahre bekommen die Schulen Globalhaushalte von den Gemeinden, die für die Schulen verantwortlich sind. Das Geld ist wichtig, aber es macht nicht allein den Erfolg des schwedischen Systems aus. Die schwedischen Schüler und Lehrer verkörpern vielleicht etwas von dem, was auch den Erfolg von Astrid Lindgrens Figuren ausmachte: Ungebremster Entdeckergeist und Anarchie, verbunden mit gemeinsamer Verantwortung. In den schwedischen Schulen braucht man offenbar nicht Pisa und die Konkurrenz mit anderen, scheinbar besseren, um zu wissen, was man selbst will.
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