ZEIT 09/2002

http://www.zeit.de/2002/09/Wissen/200209_b-sitzenbleiben.html

S C H U L E

Lasst das nutzlose Aussortieren!

Strenge Versetzungskriterien gelten als Zeichen eines hochwertigen Unterrichts - doch die Forschung zeigt, dass das Sitzenbleiben die Leistung nicht fördert, sondern bremst. Ein Gespräch mit dem Bildungsforscher Klaus-Jürgen Tillmann über alte Vorurteile und neue Schulmodelle

Von Jeannette Otto (Gesprächsführung)


die zeit: Das Sitzenbleiben erregt seit einigen Wochen die Gemüter. Abschaffen oder beibehalten - wofür sind Sie?

Klaus-Jürgen Tillmann: Man sollte es massiv reduzieren und mittelfristig ganz abschaffen.

zeit: Die meisten sehen es anders: Die Kultusminister haben sich nahezu geschlossen für die Beibehaltung der Ehrenrunden entschieden, und auch 68 Prozent der Bevölkerung finden Sitzenbleiben sinnvoll.

Tillmann: Das Grundproblem ist doch, dass in den Köpfen der meisten Menschen - und natürlich auch der meisten Lehrer - ein ganz traditionelles Lernmodell vorherrscht: klare Stoffvorgaben, fordernde Lehrer, fleißige Schüler. Das ordentliche Aussortieren der Schüler bildet den Kern dieses Lernmodells. Ziel ist es, eine homogene Lerngruppe herzustellen. Denn gutes Lernen, so die dahinter liegende Philosophie, funktioniere nur mit Schülern, die die gleichen Lernvoraussetzungen und das gleiche Lernziel haben. Die Lernschwachen müssen deshalb aus der Klasse entfernt werden.

zeit: Schwingt beim Thema Sitzenbleiben nicht auch die Angst mit, dass Leistung wieder einmal der Kuschelpädagogik zum Opfer fallen soll?

Tillmann: Das ist das Vorurteil. Die Forschung zeigt aber, dass das Sitzenbleiben die Leistung nicht fördert, sondern bremst. Schon in den siebziger Jahren wurde durch empirische Untersuchungen belegt, dass Ehrenrunden nicht die erhofften Lerneffekte bringen, dass die Sitzenbleiber im Durchschnitt nicht den Anschluss an den Leistungsstand ihrer Klasse finden. Nach spätestens zwei Jahren hängen die meisten wieder am Leistungsende. Sie gewinnen also kaum Kompetenz hinzu, verlieren aber ein Jahr Zeit. Trotzdem hat Deutschland eine der höchsten Sitzenbleiberquoten unter den Industrienationen.

zeit: Was könnten die Schulen anders machen?

Tillmann: Die Pisa-Studie hat gezeigt, dass Länder, die mit alternativen und kreativen Lernmodellen arbeiten, am besten abschneiden - obwohl sie nicht aussortieren, die Schüler nicht sitzen bleiben lassen und teilweise erst ab Klasse acht oder neun Noten geben. Die Pisa-Spitzengruppe bilden fast nur Länder mit integriertem Schulsystem, Schweden, Finnland, Japan etwa. Bis zur neunten Klasse sind dort Schüler mit den unterschiedlichsten Lernfähigkeiten zusammen. Deutschland ist ein Land mit besonders homogenen Lerngruppen, und zugleich ist bei uns die Lehrerklage unglaublich groß: Die Gruppen seien zu unterschiedlich, man könne nur schwer unter diesen Bedingungen arbeiten. Es existiert bei vielen Lehrern immer noch die Vorstellung, mehr Homogenität würde besseren Unterricht garantieren.

zeit: Also entledigt man sich am Ende des Schuljahres einfach der beiden schlechtesten Schüler und schiebt die Verantwortung damit auf den nächsten Kollegen ab.

Tillmann: Ja, das macht in der Motivation eines Lehrers eine Menge aus, ob er weiß, dass er die Schüler auch noch im nächsten oder übernächsten Jahr haben wird und er sich deshalb auch um die Lernschwächeren kümmern muss. Oder ob er mit der Perspektive lebt: Ein halbes Jahr halte ich den noch aus, dann ist Schluss.

zeit: Andererseits ist Sitzenbleiben kein Stigma mehr: Jeder kennt irgendeinen, dem es angeblich nichts geschadet habe, ein Jahr zu wiederholen. Aus Edelgard Bulmahn und Edmund Stoiber ist ja auch noch was geworden.

Tillmann: Ich sage ja auch nicht, dass das Sitzenbleiben zu einer dauerhaften Identitätsstörung führen muss. In besonderen Ausnahmen mag es auch sinnvoll sein, bei langer Krankheit eines Schülers etwa. Die zwangsweise Wiederholung eines ganzen Jahrgangs bringt aber keinerlei Vorteile. Der Schüler durchläuft stur das ganze Schuljahr noch einmal, erfährt dabei aber in den problematischen Fächern keine besondere Förderung.

zeit: Gerade mal 2,8 Prozent aller Schüler drehen eine Ehrenrunde. Wozu also die ganze Aufregung?

Tillmann: Das sind die Jahreswerte. Bezogen auf die gesamte Schülerbiografie, addieren sie sich allerdings zu einer gewaltigen Zahl: 24 Prozent der 15-Jährigen sind schon einmal sitzen geblieben. Auffällig ist auch, wie unterschiedlich die Zahlen in den Bundesländern ausfallen. In Bayern liegt die Sitzenbleiberquote bei 3,75 Prozent pro Jahr, in Baden-Württemberg bei 2,15 Prozent. Bremen lässt 3,8 Prozent aller Grundschüler sitzen, während es in Hamburg nur 1,6 Prozent sind. Das kann an den Versetzungsordnungen liegen, aber auch daran, dass man mit unterschiedlicher Strenge vorgeht.

zeit: Bremen hat sich mit seinen hohen Sitzenbleiberzahlen gebrüstet. Bildungssenator Lemke führte die Quote auf die besonders hohen Leistungsanforderungen an den Schulen zurück. Können Sitzenbleiber noch länger als Qualitätsmerkmal für eine gute Schule stehen?

Tillmann: Hohe Sitzenbleiberquoten sind kein Qualitätsmerkmal. Sie weisen vielmehr darauf hin, dass die Schule nicht in der Lage ist, ihre schwächeren Schüler entsprechend zu fördern.

zeit: Warum schneiden die Lehrer diesen alten pädagogischen Zopf dann nicht einfach ab?

Tillmann: Weil das Sitzenbleiben auch ein Machtinstrument für den Lehrer ist. Diese Maßnahme abzuschaffen wäre in den Augen der Lehrer ein weiterer Schritt, ihnen Einfluss und Durchsetzungsmöglichkeiten zu nehmen. Das Sitzenbleiben ist deshalb emotional sehr hoch besetzt.

zeit: Das plötzliche Abschaffen der Ehrenrunde ohne Alternativen wäre aber auch keine Lösung.

Tillmann: Zunächst wäre es schon ein Gewinn, wenn wir die Sitzenbleiberquote auf ein niedrigeres Niveau senken könnten. Viele Bundesländer zeigen, dass das möglich ist. Danach müsste man darüber nachdenken, wie die Ehrenrunden abgelöst werden könnten. Etliche Schulen praktizieren beispielsweise die Nachversetzung. Nach den Sommerferien wird der Schüler in den Problemfächern geprüft und, wenn sich die Leistungen verbessert haben, doch noch versetzt. Ich plädiere dafür, dass sich Lehrer jeweils zum Schulhalbjahr überlegen, wie die Leistungen der schwächeren Schüler bis zum Ende des Schuljahres verbessert werden können. In den skandinavischen Ländern gibt es zum Beispiel in solchen Fällen Zusatzunterricht. So etwas ist in unserem System gar nicht vorgesehen und auch nicht denkbar. Denn die Schulen sind in diesen Ländern Ganztagsschulen, häufig auch mit Anwesenheitsverpflichtungen für Lehrer.

zeit: Heißt das also, dass gezielte, individuelle Förderung von Schülern in Deutschland nur unter einer veränderten Schulstruktur möglich wird?

Tillmann: Würde man konsequent sein, stellt sich auch in der Debatte um das Sitzenbleiben am Ende die Frage nach dem Sinn des dreigliedrigen Schulsystems. Es gibt da einen gewissen Systemzusammenhang, denn die Länder, die ohne das Sitzenbleiben auskommen, haben ganz überwiegend ein integriertes Schulsystem. Aber politisch ist das bei uns momentan nicht durchsetzbar.

zeit: Wäre dann die Ganztagsschule eine Lösung?

Tillmann: Zumindest steht fest, dass individuelle Förderung in der Halbtagsschule schwierig zu organisieren ist. Denkbar wäre ja auch, die Schülerzahlen in den Klassen leicht zu erhöhen, um damit Lehrerstunden einzusparen, die dann wiederum für Fördermaßnahmen ausgegeben werden könnten. Aber dazu ringt sich natürlich kaum eine Schule durch.

zeit: Sinnvolle Förderung setzt ja voraus, dass Lehrer die Lernschwächen ihrer Schüler kennen.

Tillmann: Pisa hat zu dieser Thematik ein erschreckendes Ergebnis geliefert. In einer Zusatzuntersuchung bei einer kleinen deutschen Stichprobe haben wir Klassenlehrern der neunten Klassen Listen von Schülern vorgelegt und gefragt, welche von ihnen besonders schwache Leser seien. Die Trefferquote lag bei zehn Prozent! Das zeigt, dass die Lehrer über die individuellen Defizite ihrer Schüler viel zu wenig wissen. Deshalb müssen wir über die diagnostische Kompetenz, aber auch über methodisches Handwerkszeug diskutieren wie innere Differenzierung und gezielte Förderung von langsam lernenden Schülern.

zeit: Brauchen wir dazu eine neue Generation von Lehrern?

Tillmann: Nein. Viele Dinge könnten schon in den einzelnen Schulen bewegt werden. Defizite können durch Fortbildungen und Entwicklungsprogramme ausgeglichen werden. Wir müssen die Vorbilder auch nicht nur im Ausland suchen, im eigenen Land haben wir viele positive Beispiele, reformorientierte Schulen wie die Bielefelder Laborschule, die das Sitzenbleiben längst abgeschafft hat. Und es zeigt sich dort, dass es niemand vermisst.




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