SZ vom 28 02 02

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Welche Schule wollen wir?

Kopfnoten für alle

Warum der Lustfaktor nicht bildet / Von Burkhard Spinnen


Ich höre: PISA. Übler Platz im Mittelfeld. Ich höre: dass alle es ja gewusst und immer schon gesagt haben. Täglich höre ich neue Konzepte zur Ersten Hilfe. Beispiele: das Sitzenbleiben abschaffen und stattdessen die gefährdeten Schüler fördern. Programme für Bildungssschwache. Umwandlung der Grundschule in eine Ganztagsschule. Revision der Lehrinhalte in Richtung a) Anlehnung an zeitgenössische Bedürfnisse und b) Besinnung auf das Wesentliche und Überzeitliche. Ich höre dies und das; und nicht zuletzt weil ich zwei Kinder habe, sage ich, auf die Gefahr hin, schwer zu scheitern: Der Kern des Problems mangelnder oder misslingender Bildung in Deutschland liegt in den Kopfnoten. Und dies im begrifflichen wie im übertragenen Sinne.

Mit diesem Beitrag setzen wir die Debatte zur Zukunft der Schule fort, die am 23. Februar mit Wolfgang Frühwald eröffnet wurde. Der Autor ist Schriftsteller und lebt in Münster. Zuletzt erschien von ihm das Kinderbuch „Belgische Riesen“ (Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2000).

Da sind zunächst die richtigen, die alten Kopfnoten, die nicht mehr da sind: Ordnung, Fleiß, Betragen. Von meinen Zeugnissen verschwanden sie Anfang der siebziger Jahre. Die Kopfnoten verschwanden, weil der Mensch (Lehrer) sich nicht mehr anmaßen sollte, des Menschen (des Schülers) Richter im Allgemeinen zu sein. Denn das Richten im Allgemeinen führt zur Auswahl und die Auswahl führt zur Selektion. So hieß es, als Respons auf die Traumata der deutschen Geschichte. Der antiautoritäre Affekt rührte von der Überzeugung, dass jede Autoritätsausübung auf totale Herrschaft tendiere und dass jedes Bestehen auf den so genannten Sekundärtugenden eine Vorbereitung der Menschen auf den Akzept der totalen Herrschaft sei.

Ordnung, Fleiß, gutes Betragen. Obwohl in vielen sozialen und in allen ökonomischen Kontexten solche Tugenden dringend gefordert werden, haben die Worte selbst mittlerweile einen grundschlechten Klang. Als stammten sie aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Die Kopfnoten verschwanden, als die Akzeptanz der bis dahin überall gültigen Vorstellung, man könnte sich auf stoff- und fachübergreifende Qualitäten und Verhaltensformen einigen, beerdigt wurde. Doch wohlgemerkt, es verschwanden nur die Kopfnoten. Das Ideal einer gelingenden Ausbildung blieb; es blieb auch das Ideal einer gelingenden Gesellschaft. Allerdings taten sich die neuen demokratischen Ideale unendlich schwer, an die Stelle der alten Sekundärtugenden ihre eigenen zu setzen.

Kontrollierte Haltung

Oder deutlicher gesagt: Der Paradigmenwechsel ist gescheitert, es blieb bei einem Jargonwechsel. Ordnung, Fleiß, Betragen, Sauberkeit, Pünktlichkeit - die quasi-soldatischen Tugenden waren tabu - aber wie soll man bei all diesen Ausfällen das noch benennen, was Grundlage des gelingenden Ganzen der Demokratie sein soll? Kritik? Ja, natürlich, aber aufgeweckten, kritischen Geist zu zeigen ist gewissermaßen eine Tertiärtugend, eine Tugend zur Entlarvung falscher Sekundärtugenden. Nur aus Kritik heraus kann man auf Dauer nicht gestalten. Nicht wahr, Herr Fischer?

Aber viel mehr als die Kritik und ihre kleinen ungezogenen Schwestern (Aufmüpfigkeit, Unbotmäßigkeit etwa) war nie namhaft zu machen. Und so orientierten sich die sozialen Leitvorstellungen seit den siebziger Jahren an den Leitsätzen der gesättigten Marktwirtschaft: Lust auf Lernen! Das Lernerlebnis! Zum Lernen Motivieren! Leitsätze, die freilich Werbesprüche sind. Was klingen sollte wie eine Referenz an das selbständige und selbstbewusste Individuum, war die Etablierung eines Bewusstseins-Jargons, in dem der Bürger wie der Schüler als Konsument aufgefasst wurden.

Dieser Jargonwechsel hat alles mit sich gerissen. Ehrenhaft und dankenswert waren und sind die Bemühungen, verkrustete Strukturen aufzubrechen, Alltagsbrutalität zu mindern und unlegitimierte Autorität zu hinterfragen. Aber seit langem hängt die Waagschale auf der anderen Seite durch. Aus dem Schüler ist in seinem wie im Verständnis der ganzen Gesellschaft ein kritischer Konsument geworden, der vom Hersteller und Vertreiber des Produktes Bildung permanent Preisnachlässe, Garantieleistungen und Gratisbeigaben fordert.

Doch das ist, wie hätten wir früher so rasch gesagt: ein Verblendungszusammenhang. Die Total-Individuation von Geschmack und Anspruch, mit der der Konsument durch die bunte Warenwelt flanieren mag, hat im Kontext von Schule als Schule der Gesellschaft nur die allerschlimmsten Folgen. Denn während uns die Globalisierung jeden Tag höhere Standards, Margen und Allgemeinverbindlichkeiten ins ökonomische Stammbuch schreibt, tun wir immer noch so, als ließen sich junge Menschen auf die gewaltigen Herausforderungen dieses weltweiten Wettbewerbs vorbereiten, indem man sie bevorzugt machen lasse, worauf sie gerade die meiste Lust haben.

Und damit komme ich zu den Kopfnoten im übertragenen Sinne. Vielleicht sollte ich sie besser nennen: Haltungsnoten. Es geht nämlich meiner festen Überzeugung nach gar nicht um Programme, Rezepte, Reformen etc. etc. Es geht vielmehr um eine äußerst kritische Revision unserer Haltung zum Status des Allgemeinen. Genauer: es geht nicht so sehr um das, was und wie es in der Schule gelehrt und gelernt wird, sondern um die Art und Weise, mit der alle Beteiligten dem Phänomen des Lernens begegnen.

Und das heißt wesentlich: wie begegnen wir Bürger, Lehrer, Eltern, Passanten, Zeitungsleser den Jargons, in denen sich seit vielen Jahren jene äußerst unselige Verschmelzung von sozialen und marktwirtschaftlichen Vorstellungen niederschlägt? Beten wir die gängigen Formeln nach, um uns die Quote der Korrektheit zu sichern? Das geht leicht. So leicht wie es einst das Nachsprechen autoritärer Formeln war, so leicht ist es heute, jenes
Plakat- Blech zu reden, zu dem die Formeln der antiautoritären Erziehung flachgewalzt worden sind.

Machen wir den Test und fragen wir uns zum Beispiel: was heißt eigentlich „kindgerecht”? Das ist ein Wort, das im Gegensatz zu „organisiert” oder „fleißig” von pädagogischer Aura geradezu umglänzt ist. Wer „kindgerecht” sagt, ist sofort auf der sicheren Seite. Der kindgerechte Tragesitz, der kindgerechte Unterricht, das kindgerechte Fernsehprogramm. Aber ist es nicht ein Blenderwort? Kinder sind Menschen, die, wenn alles gut geht, Erwachsene werden. Die meiste Zeit in seinem Leben ist ein Mensch erwachsen. „Kindgerecht” könnte also alles sein, was Kindern dabei hilft, erwachsen zu werden und in der Welt der Erwachsenen richtig und glücklich leben zu können. Das aber ist nicht leicht und wird immer schwerer. Kindgerecht ist es, wenn ich meinen achtjährigen Sohn auf die Tugenden vorbereite, die man später in einer demokratischen Gesellschaft oder in einer globalökonomischen Konkurrenzsituation mit gutem Grund von ihm verlangen wird.

Dazu werde ich freilich allerhand tun und sagen müssen, das heute als gar nicht „kindgerecht” gilt. Ich werde Regeln aufstellen und ihre Einhaltung kontrollieren, ich werde gegen das Lustprinzip argumentieren müssen. Ich werde immer wieder darauf bestehen müssen, dass man niemandem die Verantwortung für das eigene Leben übertragen kann.

Deshalb Kopfnoten für alle. Für die Schüler, aber nicht nur für sie. Kopfnoten für Politiker! Ein „mangelhaft”, wenn sie die Demokratie mit der bedingungslosen Jagd auf Wählerstimmen verwechseln und dabei im Interesse der Quoten jeder Reduktion von Qualität zustimmen müssen. Wer die Bild- Zeitung zum Sprachrohr seiner Politik macht, akzeptiert damit deren Niveau. Basta! Gute Kopfnoten hingegen für den Mut zur Artikulation der Werte, die unpopulär, aber Grundlage für Bestehen und Glück einer Gesellschaft sind.

Und Kopfnoten für Eltern und Lehrer. Für ihre Fähigkeit, sich als Partner im Projekt Ausbildung zu verstehen und nicht als Dienstleister die einen, als Überlasser der Reparatur-Ware Kind die anderen. Kopfnoten für die tägliche Zivilcourage aller, die erziehen. Die Ablehnung des übermäßigen Konsums trivialer Medieninhalte etwa erfordert den Mut, sich gegen den Strom zu stellen, sie erfordert die Kraft zu sinnvoller Autorität. Schule ist kein Dienstleistungsunternehmen, das um Kundschaft buhlen muss. Und wer eigene Kinder hat, trägt höchste Verantwortung. Kopfnoten also. Ich bin sicher: wenn hier alle Beteiligten „gut” stehen, dann werden die PISA-Werte automatisch steigen.



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