SZ 01 03 02
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Welche Schule wollen wir?
Furchterregend, lebenslang
Der Satz, auf den wir warten: Hängt vom Einzelfall ab
Das schlechte Abschneiden deutscher Schüler und damit auch der deutschen Schule bei Pisa hat die Sorgenfalten aller Lobbyisten – und wer wäre keiner, wenn es um Erziehungs- und Bildungsfragen geht? – noch ein bisschen tiefer gezogen. Ein edler Wettbewerb um die besten Ideen hat eingesetzt, die uns aus der nunmehr amtlichen Schulmisere herausführen können. Immer mit dem Blick auf die erfolgreicheren Schulnationen will man Kinder früher und ganztägig beschulen. Um die Chancen begabter Kinder aus der Unterschicht zu verbessern, sollen frühe Schullaufbahnentscheidungen vermieden werden. Da Migrantenkinder mit sprachlichen Defiziten und vornehmlich männlichen Geschlechts bekanntlich viel zum schlechten deutschen Abschneiden beigetragen haben, votiert man hier für einen Unterricht quasi rund um die Uhr und für eine Pflicht zum Kindergartenbesuch ab drei Jahren.
Natürlich hat Pisa auch die Defizite des Lehrpersonals sichtbar gemacht. Vor allem scheint es ihnen an diagnostischen Fähigkeiten zu fehlen, mit denen sie den Leistungsstand ihrer Pappenheimer besser erkennen können als mit der
Prüfungs- und Zensurenpraxis alten Stils. Schlussendlich geht es auch um
Geld: Erfolgreiche Schulnationen wenden für ihre Grundschüler in absoluten Zahlen und in Relation zu den Aufwendungen für Sekundarstufenschüler mehr Geld auf als die Deutschen... Maßnahmen, die auf den ersten Blick plausibel scheinen, weil sie Finnland, Neuseeland und viele weitere an die Pisa-Spitze gebracht haben, müssen in einem Land, das von einer so ausgeprägten Schul- und Erziehungstradition bestimmt ist wie Deutschland (West und Ost) aber nicht dieselben schönen Effekte machen wie anderswo.
Nach der Kuschelpädagogik
Wenn man der von „Achtundsechzig“ geprägten Lehrergeneration, die sich jetzt kurz vor dem Rentenalter noch bei Pisa blamiert, einen Vorwuf machen kann, dann bloß den, dass sie die Möglichkeiten der Schule gründlich überschätzt hat. Es ist eine Sache, allen Kindern mit Achtung, Verständnis, zivilen Umgangsformen und Optimismus (das Pygmalion-Prinzip) zu begegnen. Es ist eine andere, Klassenunterschiede und Ungerechtigkeiten aller Art sich so klein zu denken, dass gute Lehrer und gute Schulen mit ihnen fertig werden müssen. Frühere Generationen wiegten sich in der dümmeren Illusion, dass nur die humanistische Bildung humanisiere und Leute ohne Graecum und Latinum nicht zählten. Da ist die Idee der Chancengleichheit, die ja immer auch mit einer Kritik des Leistungsdenkens und Konkurrenzgebarens einherging, doch entschieden menschenfreundlicher und sympathischer.
Es ist das große Verdienst dieser vielfach illusionären Kuschelpädagogik von 1968 gleichwohl, die deutsche Schule aus einer Untertanenfabrik mit hierarchischen, strikt autoritären Verfahrens- und Verhaltensweisen in eine zivil-bürgerliche Einrichtung verwandelt zu haben. Viele ältere Lehrer, matt und müde, und deshalb anfällig für Theoreme vom Kulturverfall auch in der Schule, haben den Beitrag vergessen, den diese neue Schule zur Zivilisierung und Pazifizierung der Deutschen geleistet hat in den vergangenen Jahrzehnten. Die Probleme haben die Finnen, die Neuseeländer und die Kanadier nicht gehabt...
Neben dem Leserverständnis und ein bisschen naturkundlichem common sense hat Pisa auch die Rechenfähigkeiten getestet. Abgesehen davon, dass ein schlichter Taschenrechner alles Kopfrechnen, das ich jahrelang pauken musste, überflüssig macht, ist mir der Bildungswert der Mathematik inzwischen genauso wenig plausibel wie der von Griechisch, Latein oder der deutschen Orthografie. Es ist doch wohl kein Zufall, dass der Inhalt so gut wie aller Prüfungsträume, unter denen unsereins ab und an zu leiden hat, aus
Mathe- und/oder Lateinaufgaben besteht! Je sinnloser, desto anstrengender und furchterregender, lebenslang.
Damit komme ich zur Frage, was für Aufgaben sich das deutsche Schulsystem nach seiner Zivilisierung stellen soll. Die sportliche Zahlenförmigkeit von Pisa macht es einem natürlich schwer, überzeugend zur wirken, zumal ein Haufen Probleme (Arbeitslosigkeit, Globalisierung, Wirtschaftsstandort Deutschland, demografische Entwicklung, Integration von Zuwanderern etc.) auch mit dem Bildungssystem zusammengebracht wird. Das schlechte Abschneiden der Schüler und der Schule führt demnach geraden Wegs in den Bankrott, in Not und Elend. Dass ein reiches Land wie Deutschland sich Untergangsängsten so leicht anheim gibt und pädagogische Veranstaltungen dafür verantwortlich macht, dass hier alles schief läuft, ist ein unheilvolles Erbe der Nation. Erziehung und Gesinnungsbildung in der Schule machen aber höchstens 20 Prozent des Nationalcharakters aus, den größeren Rest besorgen Traditionen, Medien und aktuelle Ereignisse.
Im Unterschied zu anderen Lesern der Pisa-Studie votierte ich also nicht dafür, dass wir uns nun alle endlich am Riemen reißen. Die klassen- und bildungsbürgerlich neutrale Schule zum Beispiel hätten wir zum Nutzen aller dann, wenn Lernen praktisch erfolgte. Weiss Gott keine neue Idee, aber immer noch keine selbstverständliche Realität. Es überwiegt der Frontalunterricht mit Bank und Buch und Lehrervortrag wie im 19. Jahrhundert. Das Hauptproblem im Umgang mit Schülern, die man nicht mehr prügeln, strafen und demütigen will und darf, hat mit der Passivität zu tun, die auch der aufgeklärte Lehrer von seinen Schülern erwartet: „Immerzu nehmen, ohne zu geben! Das ist doch das Gegenteil von Leben!“ So schon Jules Michelet 1869 in einer Betrachtung über „Unsere Söhne“. Hier liegt das Hauptproblem der Schule nach 1968 immer noch.
Für angebracht halten viele auch die Versorgung der Schule mit Computern. Da die meisten diese Maschinen schon zuhause haben, muss die Schule sich mit ihnen aber gar nicht mehr abgeben, sondern kann sie voraussetzen. Dagegen ist der Kontakt mit realen Menschen, die Selbstdarstellung und die nichttechnische Manipulation von Kommunikation das große Rätsel. Warum der Unterricht in Fremdsprachen auch heute noch im Klassenzimmer stattfindet und nicht wesentlich durch Schüleraustausch und Reisen in Gang gesetzt wird, ist sonderbar.
Jeder vierte Jugendliche bei uns würde gern einen künstlerischen Beruf ergreifen, und ehe man sich darüber erschreckt, erinnere man sich an Adorno, der einmal bemerkt hat, dass prima Bankleute als verträumte Klavierspieler anfangen...Es wird an unseren Schulen – und Pisa wird daran gewiss nichts ändern – zu wenig auf Expression, Stil, Selbstdarstellung und Ironie Wert gelegt. Das Schultheater ist eine Arbeitsgemeinschaft am Rande, nicht die Hauptsache. Der Fächerkanon, die Lehr– und Zeitpläne sind sakrosankt. Wieso? Dürfen Kinder Klassen überspringen? Kann man die Hochschulreife auch nach elf oder zwölf, statt nach dreizehn Jahren erlangen? Erst wenn die Antwort auf solche Fragen lautet „Hängt vom Einzelfall ab – kann man allgemein nicht sagen“, dann ist das deutsche Schulsystem wirklich noch einen Schritt weiter gekommen. Es sei denn, einer reicht Klage ein. Und davon muss man leider ausgehen.
KATHARINA RUTSCHKY
Historikerin und Publizistin
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