Süddeutsche vom 06 03 02
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Welche Schule wollen wir?
Vergesst die Kopfnoten!
Was fehlt, ist eine gemeinsame Sprache / Von Norbert Niemann
Rhetorisch bestechend ist Burkhard Spinnens Plädoyer für die Wiedereinführung von Kopfnoten in der Schule, das heißt, die Bewertung sozialer Grundtugenden, die für eine Erziehung zur Eigenverantwortlichkeit und für den Bestand der Demokratie unentbehrlich sind. Bestechend deshalb, weil Spinnen sie den etablierten Leitvorstellungen gegenüberstellt, in denen immer noch das Lust- und Erlebnisprinzip in den Lehrkonzepten als Allheilmittel gegen Motivationslosigkeit angesehen wird. Spinnen hat den Mut, sich tabuisierter Begriffe wie Ordnung, Fleiß und gutes Betragen zu bedienen, um das zu kennzeichnen, was er als Tugenden (auch ein verpöntes
Wort) einer demokratischen Gesellschaft gefördert sehen will, und meint damit wohl soziale Fähigkeiten wie Zuhören können, Respekt, Anteilnahme, überhaupt Interesse am Mitmenschen.
In unserer Reihe zur Zukunft der Schule, die am 23. Februar mit einem Beitrag von Wolfgang Frühwald eröffnet wurde, empfahl am 28. Februar Burkhard Spinnen „Kopfnoten für alle“. Ihm widerspricht heute der Schriftsteller Norbert Niemann, dessen Roman „Schule der Gewalt“ letztes Jahr bei Hanser erschien.
Dennoch beschleicht mich ähnlich wie bei Wolfgang Frühwalds Vorschlag, das Auswendiglernen von Gedichten wieder einzuführen, bei der Vorstellung, die von Burkhard Spinnen in metaphorischem Sinn geforderten Kopf- oder Haltungsnoten würden wirklich vergeben, ein nicht geringes Unbehagen. Das liegt nicht nur daran, dass damit Erinnerungen an die Zeiten der schwarzen Pädagogik wachgerufen werden, die für einen Deutschen schnell mit der Furcht vor soldatischem Drill und der Wiederbelebung preußischen Gehorsams verbunden sind. Die Frage ist vielmehr, worauf eine derartige Bewertungsskala gegründet werden sollte, damit sie demokratischen Tugenden dienlich wäre. Mit anderen Worten – wodurch zeichnet sich gutes Betragen aus, das keine Unterwerfung, wodurch ein Fleiß, der nicht blindes Strebertum ist?
Bei den umfangreichen Recherchen, die ich für meinen Roman „Schule der Gewalt“ im Schulmilieu betrieben habe, fiel mir als charakteristischstes Merkmal für das herrschende Klima eine tiefgreifende Kommunikationsstörung auf. Ich gewann den Eindruck, dass viele Schüler sich allein gelassen, sich in ihrer Lebenswirklichkeit, ihren Ängsten und Aporien unverstanden fühlten. Umgekehrt erlebte ich bei vielen Lehrern Autoritätsprobleme und ein hohes Maß an Hilflosigkeit. Ich glaubte vier Typen unterscheiden zu können, mit denen versucht wurde, diese Hilflosigkeit zu bewältigen.
Typ eins kehrte immer mehr zu harschen autoritären Mitteln zurück, mit Strafen und Brüllen stellten sie eine Ordnung der Angst wieder her und wurden dafür von den Schülern folgerichtig gehasst. Typ zwei bemühte sich, den jugendlichen Habitus in Jargon und Auftreten zu kopieren, um gleichsam als eine Art leader of the gang Autorität zu erlangen, was etliche Schüler als Anbiederung bewerteten. Typ drei lehnte Angst und Angleichung als pädagogische Methoden für sich rigoros ab, fand aber keine Alternative und ergab sich der Ohnmacht, was die Schüler mit gnadenloser Sabotage jeglichen Unterrichts quittierten. Die kleinste und unauffälligste Gruppe des Typ vier schließlich schien diejenige der Lehrer aus Berufung zu sein, die mit einer gleichsam natürlichen Autorität ausgestattet waren. Das Interesse am Unterrichten wurde mit einem Interesse am Unterricht belohnt. Gleichwohl war auch diesen Lehrern ein deprimierte Grundstimmung aufgrund des Gesamtklimas anzumerken.
Bei den Schülern wiederum ließen sich drei Bewältigungsformen ausmachen: Resignation, Rückzug in stammesähnliche soziale Strukturen mit klaren Wertnormen, die vom konsumorientierten Hedonismus bis zum ideologischen oder fundamentalistischen Überbau reichten, und schließlich Überanpassung.
Grundlage jedes Unterrichts ist das Vorhandensein einer gemeinsamen Sprache, Grundlage jener von Spinnen angemahnten demokratischen Tugenden ist die Verständigung. Sie erst stiftet den gewünschten Respekt und eröffnet auch die Fähigkeit zur Kritik. Nur wenn sie vorausgesetzt werden kann, kann auch der Mut zur Zivilcourage wieder sinnvoll erscheinen.
Eine gemeinsame Sprache zwischen der Welt der Jugendlichen und Kinder und der Welt der Erwachsenen scheint jedoch in großem Umfang verloren zu gehen oder ist bereits verloren gegangen. Das ist das bittere Fazit, das ich aus meinen Beobachtungen zu ziehen gezwungen war. Und wenn wir einen Ausweg aus diesem Dilemma finden wollen, müssen wir zunächst die Lage erkennen und Selbstkritik üben – auch dies im übrigen eine Tugend, die allmählich ins Verschwinden gerät –, bevor wir sonst vielleicht unangemessene Maßnahmen ergreifen.
Nach Bekanntwerden der PISA-Studie glaubte ich bei meinen Schullesungen unter den Schülern eine geducktes Verhalten zu bemerken. Und es fiel mir nicht schwer, mir vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, wenn ich heute, im Jahr 2002, mein Abitur machen müsste in dem Bewusstsein, Teil einer Generation zu sein, die zuerst zehn Jahre lang pauschal mit dem Vorurteil belegt wurde, unter dem Einfluss von Fernsehen und Computerspielen zu brutalen Terminatoren mutiert zu sein, und jetzt allgemein für dumm erklärt wird. Abgesehen von der Tatsache, dass die Wirklichkeit, die unsere sogenannte Jugend derart zugerichtet haben soll, schließlich von uns Erwachsenen produziert wurde, wäre es angebracht, diese Vorurteile als das zu erkennen, was sie auch sind. Nämlich Verdrängungsvorgänge, der Abschied von der Mitverantwortlichkeit und von einer selbstkritischen Überprüfung unseres Umgangs mit unseren Kindern, deren Lebensrealität uns offenkundig nur dann interessiert, wenn sie Amok laufen oder im internationalen Vergleich versagen.
Mein Plädoyer lautet: Lehrer, Eltern, Politiker, Medien, alle Verantwortlichen müssen sich der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen stellen. Sie müssen selbst versuchen, zuzuhören, Respekt zu üben und zu einer gemeinsamen Sprache vorzudringen. Von Jugendlichen zu erwarten, auf eine Front verstockter Erwachsener zuzugehen, ist absurd. Und die Gründe für ihre Motivations- und Mutlosigkeit müssen erst begriffen werden, bevor man ihnen mit Reformen begegnet. Weder die Panik vor der ökonomischen Zukunft dieses Landes darf die Lösungen diktieren, noch irgendwelche sonstigen, von außen herangetragenen Ängste. Dadurch werden die Gräben nur tiefer.
Ein Beispiel dafür, wie das gehen könnte, liefert die im Doppelsinn bescheidene Gruppe jener Lehrer, die es allen Umständen zum Trotz schaffen, Interesse für ihren Unterrichtsstoff zu wecken. Zunächst ist bemerkenswert, dass es sich dabei um Interesse handelt, nicht um Spaßkonzepte. Niemals wird die Schule konkurrieren können mit der Eventkultur der Freizeitgesellschaft. Im Gegenteil, Interesse schaffen, heißt, seinen Schülern Horizonte einer existentiellen Intensität und Qualität zu eröffnen, die weit mehr bieten als den Lustfaktor, den sie, nebenbei bemerkt, keineswegs ausschließen.
Die entscheidende „Gabe“, die dieser Typ Lehrer besitzt, scheint jedoch darin zu bestehen, dass er die Verständigung mit seinen Schülern sucht und dabei weder auf Strafkataloge und disziplinierende Maßnahmen zurückgreifen muss, noch sich zum Kumpel erniedrigt. Seine Autorität bezieht er aus seinem eigenen Interesse am Stoff, an seinem Interesse daran, neben dem Stoff auch dieses eigene Interesse zu vermitteln und daraus, dass er die Tatsache niemals verschleiert, mit einer Erfahrung und einem Wissen ausgestattet zu sein, die ihn seinen Schülern gegenüber gleichsam zum fremden Wesen machen. Umgekehrt weiß er, dass ihm die Lebenswelt der Schüler ebenfalls immer bis zu einem gewissen Grad fremd bleiben wird, und dass er sie gerade auch in ihrer Eigenart, sogar Eigenartigkeit achten sollte, wozu er sie erst einmal kennenlernen muss.
Junge Bäumchen binden
Ob sich, was ich hier provisorisch Erziehungskultur nennen möchte, jedoch mittels Kopfnoten und Auswendiglernen erreichen lässt, halte ich für zweifelhaft. In dem berühmten, in den letzten Jahren des Dritten Reichs gedrehten Film „Die Feuerzangenbowle“ gibt es eine einzige, rundweg positive Lehrergestalt. Nur dieser junge Geschichtslehrer besitzt uneingeschränkte Autorität gegenüber seinen Schülern, denn er verbindet ein Verständnis für ihre Nöte und Interessen mit der Souveränität eines Erwachsenen, der weiß, was ihn von ihnen trennt und wofür er sie begeistern will. Ich glaube, jedes Kind, das diesen Film sieht, wird Sympathie für den Mann hegen und sich wünschen, so einen Lehrer zu haben.
Allerdings gibt es darin die berüchtigte Stelle, wo er sein nationalsozialistisch gefärbtes Erziehungsideal artikuliert und von jungen Bäumchen spricht, die man schneiden und an einen Pflock binden müsse, damit aus ihnen einmal stattliche Eichen werden. Ob es wirklich Methoden des Bäumchenbindens sind, die man wiederbeleben sollte oder ob es nicht doch besser wäre zu versuchen, mit seinen Kindern wieder Kontakt aufzunehmen – diese Frage drängt sich mir jedenfalls in diesem Zusammenhang auf.
Soll Bildung Interesse wecken, muss zuerst ein Boden der Verständigung bereitet sein. Doch bis jetzt nimmt das Schweigen zwischen Erwachsenen und Kindern eher weiter zu. Zuhören und Respekt beruhen auf Gegenseitigkeit. Wären diese hergestellt, könnte es meinetwegen sogar Kopfnoten geben, denn dann bräuchte man sie eigentlich nicht.
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