Wer zaudert, verliert den Anschluss
Andreas Schleicher, Gesamtkoordinator der OECD für die Pisa-Studie, zieht Bilanz
Wie wird aus internationaler Perspektive die nunmehr dreimonatige politische Debatte in Deutschland um die Ergebnisse der Schulleistungsstudie Pisa bewertet? FR-Redakteur Jörg Feuck sprach mit dem Pisa-Gesamtkoordinator der OECD, Andreas Schleicher.
Frankfurter Rundschau: Sind Sie mit Verlauf und Qualität der deutschen Diskussion um Pisa zufrieden?
Andreas Schleicher: Wesentliche Ansätze sind richtig erkannt worden. Etwa dass ein klarerer Bildungsauftrag für Kindergärten und Kindertagesstätten dazu beitragen kann, frühzeitig Interesse und Lernbereitschaft zu fördern. Zum Zweiten wird der von der OECD seit langem festgestellte Tatbestand unterdurchschnittlicher Lernzeit in Deutschland, vor allem in den ersten Schuljahren, mehr beachtet. Der Ausbau zum Beispiel von Ganztagsangeboten kann da in vielerlei Hinsicht helfen. Sie könnten Benachteiligungen rechtzeitig abbauen, Begabungen finden und fördern. Entscheidend wird natürlich sein, ob und wie derartige Vorschläge umgesetzt werden. Man muss sehen, dass die Dynamik, mit der viele OECD-Staaten im letzten Jahrzehnt ihre Bildungssysteme aus- und umgebaut haben, in Deutschland viel schwächer ausgeprägt war. Wird weiter abgewartet, besteht die Gefahr, dass der Abstand zu den leistungsstärksten Staaten sich noch vergrößert. Auf lange Sicht sollte man sich aber auch über grundlegende Reformen der Bildungsstrukturen verständigen. Ich nenne dazu nur einige Stichworte: Verstärkte Integration der Bildungswege, größere Durchlässigkeit des Bildungssystems sowie individuellere Förderung können zu besseren Ergebnissen und einer ausgewogeneren Verteilung der Bildungschancen beitragen. Diesen Aspekt habe ich in der Diskussion noch nicht so recht wahrgenommen.
Da wird also ein Kern von Pisa geflissentlich übersehen?
In Deutschland werden durch frühe Selektion in unterschiedliche Schulformen sehr früh Lebensentscheidungen getroffen, die später nur noch schwer zu korrigieren sind. Wenn sie korrigiert werden, dann meistens im Sinne eines Herabstufens der Schüler in weniger anspruchsvolle Bildungsgänge. Im Ergebnis erreicht Deutschland aber weder ein gutes Gesamtniveau der Bildungsleistungen noch einen überdurchschnittlichen Anteil von Spitzenleistungen, etwa bei den Gymnasiasten. Im Unterschied dazu haben fast alle der im Pisa-Vergleich erfolgreichen Staaten auf das gesetzt, was ich eben stichwortartig benannt habe. Das soll hier nicht als Empfehlung für die deutsche Gesamtschule missverstanden werden. Aber integrative und individuelle Förderung von Schülern in Staaten wie Finnland, Japan, Kanada, Korea oder Schweden sind Beispiele dafür, wie man zwei Dinge gleichzeitig
schafft: eine breite Beteiligung an Bildungsgängen, die zu höheren Abschlüssen führen, und die Sicherung eines hohen Leistungsniveaus.
Aber in Deutschland wird doch gerade angstvoll beschworen, nicht mehr den Schulstrukturkampf der 70er Jahre neu anzufachen?
Damals ist die Debatte ja ideologisch geführt worden und nicht auf der Grundlage empirischer Erkenntnisse, die wir heute haben. Pisa bietet einen guten Ansatzpunkt, um mit solchen Fragen sachlich umzugehen. Wir wissen heute einfach, welche Bildungssysteme Erfolg haben und warum und wie sie ausgeformt sind. Deshalb ist heute die Ausgangslage eine viel günstigere als vor 30 Jahren. Leistung optimieren und Chancengleichheit sicherzustellen sind keine politischen Alternativen. Dabei muss ja nicht gleich alles umgeworfen werden. Aber warum nicht offener, flexibler gestalten?
Wie früh muss mehr Offenheit beginnen?
Da können Kindergärten und Kindertagesstätten eine sehr viel bedeutendere Rolle spielen - wie es in vielen OECD-Staaten schon umgesetzt ist. In Deutschland gibt es ja das berühmte Wort der Schulreife, also dieses "Warten wir so lange, bis das Kind in das System passt". Davon muss man wegkommen. Lernen beginnt vor der Schule und muss auch für die Zeit danach fest verankert werden.
Die Kultusministerkonferenz sträubt sich gegen Bundes-Vorschläge eines nationalen Bildungsberichts und der Berufung eines Sachverständigenrats nach Art der Fünf Weisen. Sind solche Expertisen sinnvoll?
So etwas wird schon in vielen Ländern erfolgreich durchgeführt, übrigens auch in denen, die bildungspolitisch föderal strukturiert sind. Es ist wichtig, sich auf Bildungsziele zu einigen und deren Umsetzung zu überwachen. Schließlich haben alle Eltern, wo immer sie wohnen, ein Anrecht auf gleichbleibend gute Qualität für die Ausbildung ihrer Kinder.
Ist in Deutschland ein neuer Zuschnitt der Kultus-Aufgaben zwischen Bund, Ländern und Kommunen überfällig?
Föderale und nationale Perspektiven bei der Bildungspolitik schließen sich ja nicht aus. Die USA sind ein Beispiel: Die einzelnen Staaten sind sehr autonom, und trotzdem werden auf nationaler Ebene regelmäßig Bildungsergebnisse überwacht.
Aus welcher Richtung muss künftig der Wind an deutschen Schulen wehen?
Pisa weist darauf hin, dass Schüler und Schulen, die in einem Umfeld positiver Leistungserwartung und in einem positiven Schulklima arbeiten, tendenziell mehr erreichen. Viele Staaten, die beim Pisa-Vergleich erfolgreich abschnitten, haben schon vor Jahren damit begonnen, verstärkt auf die Lernergebnisse zu schauen. Entsprechend haben die Schulen in diesen Staaten oft deutlich größere Freiräume als Schulen in Deutschland, um sich um Lernumgebung und Fächerangebot zu kümmern und Ressourcen selbst zu verwalten. Die Einzelschulen sind aber auch stärker für ihre Leistungergebnisse verantwortlich. Für Schüler in Deutschland, die Bildungsziele verfehlen, sind die Konsequenzen meist klar - sie bleiben sitzen. Hier muss umgedacht werden. Das Engagement aller Beteiligten ist gefragt. Bildungseinrichtungen, Lehrer und Schüler dürfen sich nicht als "Opfer" des Bildungssystems betrachten. Sie sind gemeinsam für gegenwärtige Leistungen als auch für künftige Verbesserungen verantwortlich.
Und keiner redet mehr vom Geld?
Vielleicht sollte man auch mal über die Verteilung der Bildungsinvestitionen nachdenken. In den ersten Schuljahren, wo wesentliche Grundlagen für Bildung gelegt werden, wird in Deutschland unterdurchschnittlich investiert, während in den letzten Schuljahren Spitzenwerte bei den Ausgaben pro Schüler erreicht werden. Insgesamt ist bei den Bildungsinvestitionen ein Umdenken angebracht. Gute Bildung hat sicher ihren Preis, aber die eingesetzten Mittel sind Investitionen in die Zukunft. Sie sollten in der Haushaltsrechnung nicht als Konsum- oder Kostenfaktor verbucht werden.
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