Aus: "Format" Nr. 12/02 vom 15.03.2002 Seite: 48 ff
Pädagogischer Psychoterror
Exklusiv. Mobbing in Österreichs Klassenzimmern: Eine druckfrische Universitätsstudie belegt erstmals, wie sehr Teenager unter Verbalattacken, Beleidigungen und Diffamierungen ihrer Lehrer leiden.
„So zurückgeblieben wie du bist, gehörst du ja sofort ins Irrenhaus", vermerkte der siebzehnjährige Marko fein säuberlich in seinem blauen Notizheft. "Nervensägen", "törichte Nußbäume" oder "italienische Esel" steht ein paar Zeilen weiter - seit zwei Jahren protokolliert der Schulsprecher eines Salzburger Gymnasiums penibel die Injurien seiner Mu-siklehrerin. "Geholfen hat es nichts. Als uns der Landesschulrat einen Inspektor schickte, hat die Frau Professor eine Musterstunde gehalten. Und tags darauf war dann alles wieder wie gehabt."
Julia, eine siebzehnjährige Mittelschülerin aus Wien, flog nach einem Konflikt mit ihrer Französischlehrerin sogar von der Schule. "Sie hat einen Klassenkollegen mit Sprachfehler immer wieder die schwierigsten Sätze wiederholen lassen - bis er vor lauter Scham kein Wort mehr hervorbrachte." Das habe Julia als Klassensprecherin so wütend gemacht, daß sie vor den Augen der Professorin ihr Vokabelheft zerrissen habe. Julias bitteres Fazit: "Diese Lehrerin wollte uns durch Autorität einschüchtern - ich habe mit Aggressivität reagiert, da hat sie mich eben rausgeekelt."
Rassismus und resignation. Die achtzehnjährige Linzer Gymnasiastin Rebecca wiederum berichtet von einem Deutschlehrer, der muslimische Mitschülerinnen rassistisch beflegelt haben soll. Sogar mit seinem Schlüsselbund soll der streitbare Magister nach den Mädchen geworfen haben. Doch damit nicht genug: Wer im Turnunterricht aufmuckte, der sei laut Rebecca kurzerhand im muffigen Gerätekammerl arretiert worden. "Der betreffende Germanist wurde ganz einfach in eine andere Schule versetzt, wo sich dasselbe Spiel wiederholte."
Auch wenn Bildungsministerium, Landesschulräte und Lehrergewerkschafter die erzieherischen Ausritte der Kollegenschaft seit Jahr und Tag beharrlich als "bedauerliche Einzelaktionen einiger weniger schwarzer Schafe" abtun wollen, weil die Prügelpauker vom alten Schlag tatsächlich nur noch eine verschwindend kleine Minderheit bilden - schwerwiegende verbale Tiefschläge zwischen Algebra, Platon und Pausenklingeln haben in Österreichs Bildungstempeln längst unbemerkt Schule gemacht. Tiefschläge, die einen Großteil der heimischen Teenager laut jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnissen kaum weniger schmerzen als dereinst das Rohrstaberl, das heute auf der Watchlist der begleitenden Unterrichtsmittel steht.
Getrübte Wahrnehmung. Im Gegenteil: "Die erfolgreiche Zurückdrängung der physischen Gewalt hat in der breiten Öffentlichkeit den Blick auf einen neuen Machtmißbrauch gegenüber Kindern und Jugendlichen getrübt. Psychische Gewalt gehört in Österreich längst schon zum Bildungsalltag", ist der renommierte Salzburger Erziehungswissenschaftler Volker Krumm überzeugt.
Die These des Schulexperten untermauern mehr als ein paar zusammenhanglose Fallbeispiele aus dem Lehrermilieu: Erstmals nämlich haben Österreichs frischgebackene Schulabsolventen in einer repräsentativen Umfrage das Verhalten ihrer langjährigen Erziehungsbevollmächtigten benotet. Im Rahmen einer umfassenden Universitätsstudie mit dem Titel "Machtmißbrauch von Lehrern in Österreich", die erst zu Wochenbeginn fertiggestellt wurde, befragte Krumm mit einem Wissenschaftlerteam des Salzburger Instituts für Erziehungswissenschaften nicht weniger als 915 frischgebackene Studenten aus allen Bundesländern unmittelbar nach Abschluß ihrer Schullaufbahn zu ihren persönlichen Kränkungserlebnissen in der Volks-, Haupt- oder Mittelschule.
Die alarmierendsten Eckdaten der druckfrischen Expertise, die FORMAT exklusiv vorliegt und die Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer in der kommenden Woche auf den Schreibtisch flattern soll:
* 78 Prozent aller österreichischen Schülerinnen und Schüler wurden im Laufe ihrer Schulzeit im Unterricht mindestens einmal massiv von Lehrern gekränkt. Krumms desillusionierende Erkenntnis:
"Der von uns verwendete Überbegriff Kränkung' wirkt sogar leicht beschönigend." Immerhin reiche die Bandbreite nämlich von Bloßstellen über Denunzieren und Verächtlichmachen bis hin zu Beschimpfungen."
Nachsatz: "Die Strickmuster dieser offenen oder versteckten Angriffe von Lehrern entsprechen exakt jenen Verhaltensweisen, die in der Arbeitswelt unter dem Schlagwort Mobbing bekannt sind" (siehe Tabelle unten).
* Einzig und allein die Intensität übertrifft sämtliche aus Wirtschaftsstudien bekannten Daten: Mehr als 52 Prozent aller pubertären Mobbingopfer wurden von Herrn oder Frau Professor öfter als einmal verbal verletzt, 73 Prozent öfter als zweimal pro Monat, vierzehn Prozent sogar mehrmals pro Woche. Studienautor Volker Krumm:
"Das allein schon zeigt, daß hinter den Beleidigungen durchaus System steckt und daß die seit Jahren etablierte Wortregelung von ,einmaligen Ausrutschern' einfach nicht länger haltbar ist."
* Genau diese Systematik macht selbst vordergründig harmlos erscheinende Seitenhiebe zum veritablen Psychoterror: Nicht weniger als 81 Prozent aller Opfer taxieren den Grad der erlittenen Kränkungen als "mittel", "sehr schwer" oder sogar "äußerst schwer".
Die logische Folge - 61 Prozent bedrücken die Kränkungen auf dem Weg zur Reifeprüfung auch noch nach Beendigung der schulischen Laufbahn.
Fall 279 aus Volker Krumms Aufzeichnungen dokumentiert beispielsweise, wie eine Beleidigung im Turnunterricht bei einer elfjährigen Schülerin sogar langwierige Eßstörungen auslöste. Das Gedächtnisprotokoll der Betroffenen im
Wortlaut: "Vor der Turnstunde wurde immer eine Anwesenheitsliste kontrolliert. Die besagte Turnstunde war nach den Osterferien. Ich war zu diesem Zeitpunkt nicht schlank, doch aus heutiger Sicht würde ich mich auch nicht als extrem dick, sondern eher als mollig bezeichnen. Doch die Lehrerin
sagte: ,Man sieht den ganzen Schinken, den du in den Osterferien gegessen hast, als Fettwürste an deinem Körper."
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