SZ 18 03 02

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Serie: Welche Schule wollen wir?

Man muss ans Eingemachte

Eine Veränderung des Systems ist fällig / Von Jürgen Oelkers

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist die staatliche Schule ein Monopol in mindestens dreifacher Hinsicht: Sie kontrolliert die Bildungsversorgung der Bevölkerung, hat die private Konkurrenz erfolgreich marginalisiert und entwickelt sich, unter weitgehender Abwesenheit von Kontrollen, aus sich selbst heraus. Das erklärt die Trägheit des Systems. Es wird, ähnlich wie der Arbeitsmarkt, verwaltet, aber nicht entwickelt. Wenigstens geht die Statik des Systems auf Entscheidungen des 19. Jahrhunderts zurück, die allzu lange Scheinsicherheit erzeugt haben.

In unserer Reihe zur Zukunft der Schule schrieben bisher: Wolfgang Frühwald, Katharina Rutschky, Burkhard Spinnen, Norbert Niemann, Ernst-Ludwig Winnacker und Hermann Unterstöger. Heute stellt Jürgen Oelkers, Professor für Erziehungswissenschaft in Zürich, das System unserer Schulen prinzipiell in Frage.

Nunmehr zeigt sich, dass träge Systeme dieser Art im internationalen Bildungswettbewerb nicht mehr mithalten können. Oder anders gesagt: Die schlechte Qualität der deutschen Schulen erklärt sich auch damit, dass andere Länder früher, schneller und intensiver mit grundlegenden Reformen begonnen haben, die Systemfragen ins Zentrum rücken. Nichts zeigt den Rückstand deutlicher, als dass die deutsche Bildungspolitik, von Ausnahmen abgesehen, die seit Jahrzehnten gewohnten Reformkonzepte ins Spiel bringt und übersieht, dass deren Unwirksamkeit erwiesen ist.

Wie sollte die Schule der Zukunft aussehen? Darüber gibt es inzwischen reichlich Feuilleton, das fast immer vergisst, dass sich schnell nichts ändern wird, dass alle Konzepte entwickelt werden müssen und Entwicklungsarbeit aufwendig ist. Typisch für die Reformhaltung der Politik ist, dass sie auf periodische Alarmierungen reagiert, die rasche Abhilfe nahe legen, ohne über Gestaltungswillen, neue Instrumente der Reform und einen langen Atem zu verfügen. Das nutzt dem Status Quo: Wer nichts wirklich an der Schule und den damit verbundenen Privilegien ändern will, muss möglichst oft für aufgeregte Debatten sorgen, die sich mit sich selbst beschäftigen.

Gewohnheiten und Ansprüche

Fast immer wird in den Reformdiskussionen die schiere Größe des Systems übersehen, die Differenziertheit und die uneinheitlichen Ausgangslagen sowie Interessen der verschiedenen Schulstufen und Schultypen. Jede Reformstrategie muss die Eigenheiten des Systems voraussetzen oder wird scheitern. Das Bildungssystem ist sehr komplex, in sich hochgradig widersprüchlich und in der jetzigen Verfassung kaum steuerbar. Gestützt wird das System durch starke Gewohnheiten und ebenso starke Ansprüche, die vom Beamtenstatus der Lehrkräfte bis zu den Feinheiten der Schulorganisation reichen. Allein das Gewohnheitsrecht, genannt „Besitzstandswahrung“, verhindert Reformen bereits im Ansatz, denkt man etwa daran, dass die allermeisten Lehrkräfte nie ihre Stelle wechseln, de facto nicht zur Rotation veranlasst werden können und unabhängig von ihren tatsächlichen Leistungen bezahlt werden. Privilegien wie diese muss man brechen können, wenn ernsthaft über Systementwicklung geredet werden soll.

Im internationalen Vergleich sind drei wesentliche Veränderungen der Organisation zu beobachten: die Steuerung nach Ergebnis, nicht nach Absicht, die Etablierung neuer Kontrollformen und Anreizsysteme sowie die Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses im Blick auf Ziele und Personal der Schule. Die erste Veränderung heißt unschön „Outputsteuerung“: Gemeint ist die Abkehr von einer Praxis, die auf das 17. Jahrhundert zurückgeht. Schulen verteilen Noten, die nichts aussagen über die tatsächlich erreichten Kompetenzen. Wer nicht lesen kann, wird benotet, was die Kompetenz nicht verbessert, wohl aber dem Klassendurchschnitt dient. Im Extrem erhalten schlechte Kompetenzen gute Noten, weil eine Bezugsnorm gar nicht vorhanden ist. Die Lehrkräfte beurteilen nur, was und wen sie vorfinden, ohne dass sie ihren Unterricht an gemeinsamen Standards ausrichten würden.

Die Beurteilung der Qualität kann nur vom Resultat ausgehen, von dem, was der Unterricht hervorbringt – erreicht oder nicht erreicht. Das setzt Zielsetzungen voraus, inhaltliche Standards, die mit Lehrprogrammen formuliert werden müssen. Die heutigen Schulen sind für ihre Abnehmer intransparent, was sowohl dem Leistungsgedanken als auch dem Demokratiegebot widerspricht. Der Schulbesuch gleicht einem Schicksal, das entgegen genommen wird, weil Partizipation der Eltern und Schüler gar nicht vorgesehen ist, das System stören würde.

Intransparent ist aber auch das Verhalten der Lehrkräfte unter einander, die nicht oder viel zu wenig gewohnt sind zusammenzuarbeiten und zugleich hohen kollegialen Schutz genießen. Zudem wirkt die Ausbildung nach: Zwei Staatsexamen bescheinigen, dass nach einer bis zu zehn Jahre dauernden Ausbildung weitere Arbeit eigentlich nicht mehr nötig ist, während jede Personalentwicklung der Zukunft von ständigen Qualifizierungsprozessen ausgehen muss. Lehrkräfte sind mit beiden Examen „fertig“, auch weil für permanente Weiterbildung wirkliche Anreize fehlen.

Man muss also wirklich an das Eingemachte, wenn nicht immer nur der Status Quo bestätigt werden soll. Dazu zählt maßgeblich die Anstellung der Lehrkräfte, also die Art und Weise ihrer Beschäftigung. Sie kennt heute kaum explizite professionelle Standards oder eine Entlöhnung mit echten Leistungskomponenten. Das schlechte Image der Lehrberufe hat auch damit zu
tun: Es gibt keine vergleichbaren Berufsgruppen, die derart kontrollfrei verfahren könnten. Das beste Indiz dafür ist, dass ein Wort wie „Kontrolle“ in Lehrerkreisen unter Bann gestellt ist, während zugleich behauptet werden kann, die Leistungen der einzelnen Lehrkräfte seien der ausschlaggebende Faktor für die Bildung von Kindern und Jugendlichen.

Die Lehrkräfte müssen lernen, sich auf Abnehmer und Kunden einzustellen, die nicht länger hoheitlich behandelt werden können. Umgekehrt dürfen Eltern die Erziehungsarbeit nicht einfach den Lehrkräften überlassen. Daher müssen Spielregeln formuliert werden, die wechselseitig sanktionsfähig gehalten sind. Dafür geschieht heute fast nichts, weil auch hier Anreize fehlen. Die Lehrkräfte werden nicht besonders belohnt, wenn sie erfolgreiche Partizipationsformen aufbauen, umgekehrt erhält niemand einen Malus, der auf Partizipation verzichtet, intransparent handelt und Leistungen nicht nachweisen kann.

Hier müssen Bewertungssysteme entwickelt werden, die auch – horribile dictu – Lohnfolgen haben können. In Zukunft sollten alle Lehrkräfte und alle Schulen regelmäßig evaluiert werden, möglichst von Außen und mit einem klaren Satz von Kriterien, die an professionellen Anforderungen ausgerichtet sind. Zu diesem Zweck muss eine starke Schulleitung etabliert werden, die auch tatsächlich für Personalentwicklung sorgen kann. Die heutige Fort- und Weiterbildung ist bedürfnis-, aber nicht bedarfsorientiert, weil der Qualifizierungsbedarf einer Schule nie erhoben wird.

Die jetzige Praxis führt zu hohen Streueffekten, steigert die Kosten, während ein Gutteil der heutigen Diskussionen mit der Frage verbunden ist, ob sich die gewaltigen Investitionen in das Bildungssystem überhaupt lohnen, wenn so wenig herauskommt. Bildung und Ökonomie sind in Deutschland moralisch getrennt, aber das entlastet nicht von der Frage, warum, die PISA-Daten vorausgesetzt, ein so teures System, das nur ganz geringe Investitionsmittel zu Verfügung hat, so wenig Qualität erzeugt.

Die Frage sollte mit Blick auf das System beantwortet werden, das wenig effizient verfährt, keine Zeitökonomie kennt und Lernprozesse in die Organisationsformen des 19. Jahrhunderts presst. Die Lernzeit ist schematisiert, die Lerninhalte sind wenig flexibel, die Lernanforderungen sind am fiktiven Durchschnitt orientiert. Auch wenn kaum jemand etwas lernt, wird nach Stundenplan Unterricht erteilt, ohne Aufwand und Ertrag in ein realistisches Verhältnis zu setzen. Aus diesem Grunde sind nur Steuerungen vom Ergebnis her heilsam.



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