Lieber Kollege Zwickl
Danke für die freundlichen Worte, trotzdem kann ich Ihnen nicht zustimmen, dass es in der Politik immer nur um die Macht, oder
- symbolisch gesprochen - um die Chefsessel, ginge.

Meine politischen Vorstellungen sind demgegenüber völlig konträr. Mir geht es um Inhalte, um die Wahrnehmung von Interessen, in der Gewerkschaft geht es um die Wahrnehmung unserer Interessen. Und weil ich diese Position vertrete, finde ich Kollegen so widerlich, die nur Positionen anstreben, und unsere Interessen dabei - freundlich ausgedrückt - "vergessen". Wenn ich meine Augen vor der Wirklichkeit nicht verschließe, kommt mail-wendend der Zuruf, dies wäre "schelmisch" gedacht. So tönt eben der "Haltet den Dieb- Vorwurf" durch unser Forum.

Wenn wir unsere Interessensvertretung ernst nehmen, dann brauchen wir statt einer verkorksten Organisationsstruktur eine basisdemokratische Konzeption, ein imperatives Mandat der Funktionsträger. Ich kenne aus Erfahrung die Einsamkeit der Funktionsträger in einem Gremium. Wenn hier kein Kontakt zur Basis vorhanden ist, wenn die Basis nicht oder falsch oder irreführend informiert wird, dann entsteht ein Agieren in einem leeren Raum, in dem den Akteueren auch mit den kraftvollsten Sprüchen rasch die Luft ausgehen muss. Ich will eine Organisations- Struktur, wo Funktionsträger und Mitglieder der Organisation in einer geschlossenen Kette auftreten. Die Kraft einer Organisation kommt nicht aus den gepolsterten Chefsesseln.

Aber es gilt zu verhindern, dass die Kollegenschaft in Unwissenheit über die Abläufe gehalten wird. Dann kann sie auch nicht auf die Vorgänge reagieren, sondern Ergebnisse - wie bisher - nur mit Enttäuschung vermerken.

Weil Sie sich in solch rührender Weise um meine politische Scharf- Sichtigkeit besorgt sind, so kann ich Ihnen versichern, dass ich meinen Blick stets über den Tellerrand erhebe.

In der Sozialdemokratie hat es Tradition, dass wir uns sehr um ein Denken bemühen, dass ohne Feindbilder auskommt. Was von anderer politischer Seite kommt, wird integriert. Um diese Behauptung nicht unbewiesen im Raum stehen zu lassen, zeige ich Ihnen, dass Sozialdemokraten fähig sind Angehörige einer andern politischen Gruppe besser und überzeugender zu würdigen als "die eigenen Leut". Als Beispiel führe ich für Sie an die Rede von Bundeskanzler Schröder anlässlich des 75.Geburtstages von Hans-Dietrich Genscher:

Schröder:
"Auf dem Weltwirtschaftsgipfel 1987 in Davos warnte der damalige Außenminister Genscher den Westen vor falschen Berührungsängsten. Die Politik von Glasnost und Perestroika erschien ihm als historische Chance zur Verbesserung des Ost-West-Verhältnisses.

Es mutet aus heutiger Sicht schon einigermaßen skurril an, welche Reaktionen es daraufhin in Deutschland und in manchen westlichen Hauptstädten gegeben hat.

"Genscherismus" galt in bestimmten Kreisen plötzlich als Synonym für Schaukelpolitik. Und Hans-Dietrich Genscher selbst, dessen Ablehnung aller totalitären Systeme immer außer Frage stand, wurde gar als Sicherheitsrisiko eingestuft: Weil er alten Feindbildern abschwor, weil er auf den Dialog mit Gorbatschow setzte; weil er aus der Gegnerschaft zu Moskau eine neue Partnerschaft entwickeln wollte.

Damals ging es Hans-Dietrich Genscher um nichts anderes als die Wahrung und optimale Vertretung deutscher und europäischer Interessen."


Ich hoffe, dass Ihnen nunmehr klar geworden ist, wo Engstirnigkeit und wo politischer Weitblick zuhause sind.

Freundliche Grüße
Günter Wittek



----- Original Message -----
From: Josef Zwickl
To: Günter Wittek ; Lehrerforum
Sent: Friday, March 22, 2002 4:11 PM
Subject: LF: Re: Führerkult-Figuren

Lieber Kollege Wittek!
Ich gratuliere Ihnen! Sie haben die Politik durchschaut. Leider sind Sie zwar auf einem Auge noch ein wenig weniger scharfsichtig, aber das kann sich auch noch ändern.

In der Politik ging es immer nur um die Eroberung der Chefsessel und damit der Hebel zur Macht. Allerdings sollten Sie nicht blauäugig annehmen, dass charismatische Führerfiguren anderer politischer Lager hierbei anders wären. So hatten wir ja immerhin 30 Jahre eine andere Mehrheitspartei, die in Österreich alle nennenswerten Posten besetzte und die Macht der Medien für sich in Anspruch nahm. Dass dabei Österreich schon damals kaputtregiert wurde, wird heute vielfach vergessen, weil man Ursache und Wirkung häufig -absichtlich?- verwechselt. Ich glaube man sollte realistischerweise weder hui noch pfui einer politischen Richtung zuordnen. Das wäre zu einfach um wahr zu sein. Mfg Josef Zwickl

----- Original Message -----
From: "Günter Wittek"
To: "Lehrerforum"
Sent: Thursday, March 21, 2002 2:11 PM
Subject: LF: Führerkult-Figuren




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