Die PRESSE 28 03 02
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Statt Geschichte kommt Politische Bildung
In der AHS-Oberstufe soll es im Herbst eine Reform des Geschichtsunterrichts geben. Mit Politischer Bildung anstelle der herkömmlichen Geschichte in den Abschlußklassen.
VON ERICH WITZMANN
Der heutige Form des Geschichteunterrichts könnte bald selbst Geschichte sein. | (c) apa
WIEN. Die Lehrbücher für Geschichte und Sozialkunde der AHS-Oberstufe sind ab diesem Sommer Makulatur. Auch jene, die erst vor kurzem approbiert und auf den Markt gekommen sind. Ab Herbst wird die bisherige Fachbezeichnung mit dem Zusatz "Politische Bildung" ergänzt. Und der bisherige
(traditionelle) Geschichtsunterricht endet mit den sechsten Klassen.
"Der Lehrplan-Neu ist sehr oberflächlich und vieles ermöglichend", sagt dazu Georg Lobner, Geschichtsprofessor am Gymnasium in Gänserndorf. Der Leiter der niederösterreichischen Arbeitsgemeinschaft der Geschichtslehrer und Sprecher aller neun Länder-Arbeitsgemeinschaften konstatiert ein "völliges Umkrempeln" des Geschichtsunterrichts, gleichzeitig stellt er aber lapidar
fest: "Wir, die Arbeitsgemeinschaften, waren in die Lehrplanreform nicht eingebunden." Die Arbeitsgemeinschaften werden zwar stets beansprucht, um Neuigkeiten aus dem Ministerium zu transportieren, über die Reform habe man aber im Vorjahr zum ersten Mal aus einer Zeitungsnotiz erfahren.
Hatte man bisher (und derzeit) für die Geschichte bis 1945 die ersten drei Oberstufenjahre Zeit und widmete sich dann in der achten Klasse der Nachkriegszeit, sowie den gesellschaftlichen und politischen Problemen der Gegenwart, so soll der künftige Lehrstoff folgendermaßen gegliedert sein: 5. und 6. Klasse die Geschichte bis 1918; 7. und 8. Klasse "wesentliche Transformationsprozesse im 20. und 21. Jahrhundert und grundlegende Strukturen der Politik".
"Die Tendenz ist: Alles zurückzudrängen, was mit Geschichte zu tun hat", sagt Lobner. Die Lehrplan-Verfasser im Ministerium seien dem Modediktat erlegen. Was er unter diesem Diktat verstehe? Lobner: "Die Entrümpelung, die ist beliebt."
Nach der alten "Bildungs- und Lehraufgabe" soll das Fach "das Verständnis für die Gegenwart in ihrer historischen Bedingtheit wecken". "Von wichtigen Sachverhalten der Geschichte Österreichs im europäischen Zusammenhang, von wichtigen geschichtsformenden Ideen und Kräften" ist unter anderem die Rede.
Nach den neuen Bildungsaufgaben "sind die Grundstrukturen und der Strukturwandel der Weltgeschichte und der europäischen Geschichte sowie aktuelle Entwicklungen zu vermitteln". "Jedem Lehrer ist überlassen, was er herausliest", sagt Geschichtsprofessor Lobner, "wir wünschen uns genauere Vorgaben statt schwammigen Formulierungen." Und angesichts des Komprimierens des Geschichtsstoffes in nur zwei Oberstufenjahren könne man nicht mehr ein gesichertes und nachhaltiges Geschichtsbild vermitteln. "Das ist die Quadratur des Kreises."
Pro Schuljahr gibt es theoretisch 80 Geschichtsstunden, zieht man Feiertage, Direktorstage, Skikurse und sonstige Klassenabsenzen ab, verbleiben gerade noch 60 Stunden. Urgeschichte gebe es schon derzeit kaum, sagt der Leiter der NÖ-Geschichts-Arbeitsgemeinschaft, gewisse antike Inhalte werde man wohl streichen und große Teile des Mittelalters auch. Ein anderer niederösterreichischer Kollege Lobners weist darauf hin, daß in den beiden Abschlußklassen nicht nur Geschichte, sondern auch Sozialkunde eliminiert werde. Und gerade im Sozialkunde-Schwerpunkt hätte er auf die künftige Berufswelt und die differenzierten Jobanforderungen hinweisen können.
Aus den didaktischen Grundsätzen des neuen Lehrplans
Im künftigen Lehrplan Politischer Bildung steht in der siebenten Klasse die Friedenssicherung nach 1918, die Staatensysteme und ihre Ideologien, die
Befreiungs- und Unabhängigkeitsbewegungen. In der achten Klasse geht es dann um das politische Alltagsverständnis, Medien, Vorurteile und Rassismen,
Integrations- und Globalisierungsfelder und schließlich das politische System Österreichs. Dabei, so Lobner, habe man schon bisher die Politische Bildung berücksichtigt und stets aktuelle Bezüge hergestellt. Die Landreformen unter Solon oder den Gracchen seien selbstverständlich in Bezug zur Landwirtschaft Europas und zu den Agrarproblemen in anderen Kontinenten gestellt worden.
Mitte März ist die Begutachtungsfrist abgelaufen, Ende Mai soll der Lehrplan per Verordnung in Kraft gesetzt werden - mit Beginn ab dem kommenden Schuljahr. Gefordert sind nicht nur die Schulbuchverlage, sondern auch die
Lehrer: Denn der gesamte Oberstufen-Lehrplan soll in allen Klassen gleichzeitig eingeführt werden - und nicht aufsteigend ab den fünften Klassen. Das heißt: Für die kommenden sechsten AHS-Klassen wird damit das gesamte Mittelalter (im Lehrplan-alt in der sechsten, im Lehrplan-neu in der fünften Klasse) entfallen.
Verständnislos stehen die Geschichtslehrer der ministeriellen Eile gegenüber, Denn ein Jahr später soll die Oberstufen-Reform umgesetzt werden. Diese will man bei dem isolierten Geschichte-Vorhaben offensichtlich nicht abwarten.
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