Aus der FTD vom 26.3.2002
Kommentar: Schluss mit der Bescheidenheit
Von Wolfgang Münchau
Mit den ersten Warnstreiks in der Metallindustrie beginnt ein unsägliches Ritual. Egal ob Bundeskanzler, Arbeitgebervertreter oder selbst ernannte Wirtschaftsexperten: Sie alle fordern von den Gewerkschaften einen hohen Grad an gesellschaftlicher Verantwortung. Ein Euphemismus für moderate Lohnsteigerungen.
Solche Forderungen sind blanker Unsinn. In unserem Wirtschaftssystem dienen Unternehmen in erster Linie ihren Aktionären und nicht der Gesellschaft. Man mag sich darüber streiten, ob das Lohnkartell zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern heute noch zeitgemäß ist. Da die Lohnrunde 2002 aber innerhalb des Systems operiert, braucht man sich nicht zu wundern, dass Gewerkschaften wie die IG Metall zunächst die eigennützigen Interessen ihrer Mitglieder im Auge haben.
Deren Forderung nach Lohnerhöhungen von bis zu 6,5 Prozent ist auch gesamtwirtschaftlich nicht annähernd so absurd, wie oft behauptet wird. Sie ist konsistent mit einem Abschluss in der Bandbreite von drei bis vier Prozent. Das entspricht in etwa der Summe aus Inflation und höherer gesamtwirtschaftlicher Produktivität.
Für einen Abschluss in dieser Bandbreite spricht auch die langfristige Kurve der Verteilung des volkswirtschaftlichen Mehrwertes. Ob in Deutschland oder in den USA: Über lange Perioden ist die Verteilung der Produktivitätszuwächse zwischen Arbeitnehmern und Aktionären konstant. Es gibt natürlich Zeiten, in denen die Aktionäre die relative Oberhand haben - wie etwa die Periode des globalen Bullenmarktes von 1993 bis 2001. Der Anstieg der Löhne hing in dieser Zeit dem Anstieg der Dividenden und Kapitalgewinne weit hinterher. Dass ein solcher Zustand aber nicht ewig anhalten kann, war im Übrigen auch ein Argument gegen die Überbewertung der Aktienkurse. Irgendwann kommen die Arbeitnehmer und verlangen ihren Anteil - egal ob als Einzelkämpfer oder organisiert in einer Gewerkschaft.
Relative Marktmacht
Der Ausgleich der Abwägungen zwischen Aktionären und Arbeitnehmern hat nichts mit Moral oder mit Verteilungsgerechtigkeit zu tun, sondern mit relativer Marktmacht. Sie existiert, hat in der Vergangenheit existiert und wird auch in der Zukunft existieren - egal ob wir das gutheißen oder nicht. Der Ruf nach moderaten Lohnsteigerungen gehört in Deutschland selbst für Sozialdemokraten zum wirtschaftspolitischen Reflex. Er ist genauso widersinnig wie ein Ruf nach moderaten Gewinnsteigerungen in den Unternehmen oder moderaten Kursentwicklungen an den Finanzmärkten. Wer so redet, versteht nichts von marktwirtschaftlichen Prozessen.
Es ist ökonomisch widersinnig, eine permanent moderate Lohnentwicklung zu fordern. Solange die Lohnerhöhungen nicht höher ausfallen als die Summe aus Inflation und dem Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktivität, besteht aus gesamtwirtschaftlicher Sicht kein Problem.
Tarifkartelle, wie sie in Deutschland existieren, haben viele Nachteile, aber auch den einen oder anderen Vorteil. Zum Beispiel erkaufen sich Unternehmen damit einen Grad an Verlässlichkeit. Auch in dezentralen Systemen kann es zu absurd hohen Lohnforderungen kommen. In den USA oder Großbritannien haben sich die Gehälter in vielen Jahren um mehr als die Summe aus Inflation und gesamtwirtschaftlicher Produktivitätssteigerung erhöht. Ein deutsches Beispiel für eine solche Entwicklung war der Pilotenstreik im letzten Jahr, nachdem die Pilotenvereinigung Cockpit eine Lohnforderung von 30 Prozent durchsetzen wollte. So etwas hat die IG Metall selbst zu ihren Glanzzeiten nie gewagt.
Für eine Lohnerhöhung im Korridor von drei bis vier Prozent spricht auch der Wirtschaftszyklus. Die IG Metall und die Metallarbeiter haben sich vor zwei Jahren auf einen sehr moderaten Abschluss geeinigt - drei Prozent für das Jahr 2000; 2,1 Prozent für das Jahr 2001. Damit lagen die Lohnsteigerungen im vergangenen Jahr unter der Inflationsrate.
Konsumentennachfrage eingebrochen
Die ungünstige Lohnentwicklung hat dazu beigetragen, dass die Konsumentennachfrage in Deutschland in der Rezession stark eingebrochen ist. Der Dualität von Arbeitnehmer und Aktionären entspricht die Dualität von Konsumnachfrage und Investitionen (allerdings bei weitem nicht perfekt). Ohne eine stabile Konsumnachfrage wird sich die Wirtschaft nicht nachhaltig erholen. Das Kaufkraftargument mag nicht allein entscheidend sein, es lässt sich aber auch nicht ignorieren.
Immer wieder wird eingewandt, höhere Löhne führten zu mehr Arbeitslosigkeit oder zu einer Verlagerung von Produktionsstätten in das billige Ausland. Doch Deutschland hat trotz einer vorwiegend moderaten Lohnentwicklung in den letzten 15 Jahren so gut wie keine Fortschritte in der Bekämpfung der strukturellen Arbeitslosigkeit gemacht. Angesichts hoher struktureller Rigidität im deutschen Arbeitsmarkt wäre es ökonomisch widersinnig, den Anpassungsprozess allein über den Lohn wirken zu lassen. Stattdessen sollten Sozial- und Arbeitslosenhilfe reformiert und die Lohnnebenkosten gesenkt werden.
Eine unerwartet moderate Lohnrunde wäre nur dann im Interesse der Arbeitnehmer, wenn die nicht beanspruchten Lohnerhöhungen anderweitig realisiert würden - etwa durch Steuersenkungen. Doch die gibt es nicht; stattdessen gingen die Krankenkassenbeiträge hoch.
Das jährliche Ritual wird noch einige Zeit laufen. Dann werden sich beide Seiten einigen, irgendwo zwischen drei und vier Prozent. Der Wirtschaft würde dies nicht schaden. Dann sollte man überlegen, wie man die Arbeitskosten reduziert, ohne dabei an die Löhne und Gehälter zu gehen. Zur Lösung dieser Probleme ist aber die Bundesregierung gefordert - nicht die Gewerkschaften.
© 2002 Financial Times Deutschland
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