SZ 12 04 02

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Das siegende Klassenzimmer

Architektur, Städtebau, Pädagogik: Was das neue Schulgebäude in Helsinki- Herttoniemi mit der Pisa-Studie zu tun hat

Auch das vielgelobte Finnland ist nicht ohne Fehl und Tadel. Das Land steckt nämlich gleichfalls in einem wirtschaftlichen Strukturwandel – weshalb es mit mehr als neun Prozent noch immer die höchste Arbeitslosigkeit in Skandinavien aufweist. Gleichwohl kann Finnland beispielsweise auf den Index für technologische Entwicklung oder auf das prognostizierte Wirtschaftswachstum stolz sein. Den Durchbruch im Bewusstsein der Europäer schaffte Finnland aber erst mit seinem Spitzenplatz in der Pisa- Studie.

Und so reisen denn seit einigen Wochen besonders deutsche Bildungsexperten in den äußersten Nordosten Europas, um dem „finnischen Wunder“ auf die Spur zu kommen. Rasch wirkende Rezepte wird freilich niemand nach Hause mitnehmen können. Die bildungspolitischen Erfolge beruhen nämlich auf einer langen Tradition. Grundlage sind die zuweilen belächelten skandinavischen Tugenden: eine relativ geringe soziale Spreizung, ein hohes Bewusstsein für Gemeinschaft, somit ein größeres Verständnis für öffentliche Aufgaben. Auch die Finnen zahlen hohe Steuern, weil sie im Gegenzug viel dafür bekommen, zum Beispiel erstklassige Kulturzentren, moderne Universitätsinstitute – und pädagogisch wegweisende Schulhäuser. Auf dem Gebiet von Aus- und Weiterbildung hat Finnland jahrzehntelang beharrlich gesät, nun kann es die Ernte einfahren.

Mittlerweile ist die deutsche Öffentlichkeit darüber informiert, wie die finnische Gesamtschule, die übrigens nach dem Modell der DDR- Einheitsschule geschaffen wurde, funktioniert: mit kleinen Klassen und Fördergruppen, mit Sonderpädagogen, Ärzten und Schulpsychologen. Das Augenmerk sollte aber auch den Gebäuden selber gelten. Vor allem die neuen finnischen Schulen sind grundlegend anders konzipiert als hierzulande üblich. Die Bauten dienen nicht allein dem Unterricht, sondern enthalten auch andere Einrichtungen, etwa eine Zahnklinik, ein „Haus der Jugend“ oder Räume der Volkshochschule. Auf diese Weise sind die Schulen eng mit dem sozialen Leben verbunden.

Auch in Finnland muss die Schule zusätzliche Leistungen zur Integration von Kindern und Jugendlichen erbringen. Dies trifft gerade auf die neuen Stadtteile im Osten von Helsinki zu, die während des letzten Jahrzehnts entlang der Metro-Linie entstanden sind. Am Rand der Hauptstadt wohnen nicht nur viele Ausländer (dort sind Albanisch und Somalisch die häufigsten „fremden“ Muttersprachen), sondern auch Spätaussiedler aus den altfinnischen, heute russischen Gebieten. Deshalb ist die städtische Schulbehörde darauf bedacht, ihre neuen Gebäude sehr einladend zu gestalten, um auch über die Qualität der Architektur die Anstrengung des Lernens positiv zu besetzen. Jeweils in der Mitte eines Stadtteils gelegen sind die Häuser flach gebaut und intelligent gegliedert, damit den Schülern eine „weiche Landung“ im Schulalltag ermöglicht wird.

Ein herausragendes Beispiel für die Investition in anspruchsvolle Schularchitektur liefert das im letzten Jahr bezogene Gebäude im Stadtteil Herttoniemi. Entworfen wurde es vom Architekten Olli Pekka Jokela, der in Helsinki schon mehrfach aufgefallen ist, unter anderem durch den markanten Neubau der Medizinischen Nationalbibliothek. Die neue Schulanlage in Herttoniemi plante er für rund 700 Schüler, welche die „ala-aste“ besuchen, die Grundstufe der Gesamtschule mit den Klassen 1 bis 6. Sehr geschickt hat Jokela den kompakten Flachbau als „kleine Stadt“ in die Mitte des noch nicht fertigen Wohnquartiers gelegt. Zum öffentlichen Platz hin zeigt die zweigeschossige Schule eine lang gestreckte Front, während sich am Innenhof, den man durch eine große Toröffnung erreicht, das Bauwerk in einzelne Häuser gliedert. Auf der einen Seite liegt die Turnhalle, auf der anderen Seite schieben sich drei separate Klassentrakte in den Hofraum hinein.

Jedes dieser Lern-Häuser hat dort einen eigenen Eingang, und ein jedes tritt nach außen anders auf: das erste ist mit Holz verkleidet, das zweite mit Sichtziegel, das dritte grünlich verputzt. Das fördert die Orientierung der Primarschüler und zugleich die Identifikation: Die Häuser sollen als „Heimstatt“ angenommen werden, sagt der Architekt. Die Konzeption der „kleinen Stadt“ setzt sich im Inneren konsequent fort. Die Klassentrakte umschließen nämlich eine Halle, die als Drehscheibe des schulischen Lebens dient. Geprägt durch einen Brückengang, durch Innenbalkone und verglaste Wände, bietet diese Halle ausreichende Platz: für das gemeinsame Mittagessen wie für Versammlungen, für Theaterabende wie für Kunstpräsentationen.

Ausdrücklich soll die Schule auch der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Neben einer Zahnklinik im Hauptgebäude gibt es deshalb seitlich der Halle eigene Räume für externe Veranstaltungen. Man soll aber nicht meinen, dass der Architekt aus dem Vollen schöpfen konnte. Auch in Finnland drängt die öffentliche Hand auf kostengünstiges Bauen. Zugunsten einer hochwertigen Gestaltung mit Ziegelwänden und Holzpaneelen hat Jokela beispielsweise beim Hallenboden gespart. So hat das große Gebäude insgesamt nicht mehr als rund neun Millionen Euro gekostet.

Bis hin zur Möblierung vermittelt die Schule in Herttoniemi vor allem eines: Wohlbefinden in modernen Räumen. Nicht nur Bildungsexperten, auch Bauherren und Architekten könnten in Finnland getrost Nachhilfeunterricht nehmen.

WOLFGANG JEAN STOCK



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