Die Furche 15 04 02

http://www.furche.at/archivneu/archiv2002/fu1502/09.shtml

Die Schulwelt nach Pisa
Mittelmaß. Schwamm drüber?

Selten hat eine internationale Bildungsstudie für so viel Gesprächsstoff
gesorgt: Die Ergebnisse von Pisa erschütterten die deutsche Bildungspolitik, während man in Österreich, zufrieden mit dem zehnten Platz, die Qualität des Schulwesens bestätigt sah. Nicht ganz zu Recht, wie dieses furche-Dossier beleuchtet.

Von Doris Helmberger

Der Name birgt Pikantes: Ausgerechnet jene Stadt, in der einst Galileo Galilei das Licht der Welt erblickte, ausgerechnet Pisa, Heimstatt weltberühmter Kulturdenkmäler, wird zum Synonym für das zertifizierte Versagen der deutschen Bildungspolitik. Der Schiefe Turm als Sinnbild für ein ins Wanken geratenes Schulwesen? Glaubt man den deutschen Medien, ist das nationale Bildungsgebäude schon längst eingestürzt. Nirgendwo sonst hatte die im Dezember 2001 veröffentlichte und von der OECD durchgeführte Bildungsstudie Pisa (Programme for International Student Assessment) für solche Aufregung gesorgt. 31 Länder waren hinsichtlich der Nachhaltigkeit ihres Schulsys-tems getestet worden; rund 250.000 15-Jährige hatte man im Mai 2000 auf ihre Lesekompetenz, ihre mathematischen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten hin geprüft. Doch das Land der Dichter und Denker landete bei der Lesefertigkeit nur auf dem 21. Platz – elf Ränge hinter Österreich. Magere 484 Punkte hatte man errungen, sogar den OECD-Durchschnitt von 500 verfehlt und Österreich mit 507 Punkten dahinziehen lassen. Ganz zu schweigen von den Finnen, die mit 546 Punkten unangefochten an der Spitze der Staatenliste stehen. Ähnlich trist fiel das Bild in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften aus, wo die deutschen Schüler anders als ihre österreichischen Kollegen nur unterdurchschnittliche Leistungen erbrachten. Der „Pisa-Schock“ war nachhaltig: „Sind deutsche Schüler doof?“ titelte der Spiegel, vom „Tatort Schule“ war in der Zeit die Rede und davon, welche Schlüsse aus dem „lehrreichen Desaster“ zu ziehen seien. Hierzulande feierte man dagegen – zumindest zu Beginn – die schulpolitische Neuauflage von „Cordoba“ (für Nichtfußballer: jenes historische Match von 1978, in dem Österreich Deutschland immerwährend 3:2 bezwang). Erst langsam verschaffen sich nun kritische Stimmen Gehör: „Der Unterschied zu Deutschland ist mit freiem Auge nicht wahrnehmbar. Daher besteht die Gefahr, dass man diese fast nicht wahrnehmbare Differenz über-interpretiert“, warnt der österreichische Pisa-Projektleiter Günter Haider vor allzu viel Zufriedenheit (vgl. Interview Seite 14). Erst nach und nach verlagert sich der Fokus weg vom bloßen Ranking hin auf das Kleingedruckte in der 350 Seiten umfassenden Studie: Setzt man etwa den zehnten Platz Österreichs in Relation zu den Bildungsausgaben, sieht der Befund schon bescheidener aus: 82.809 Euro (1,14 Millionen Schilling) werden bis zum 15. Lebensjahr eines Schülers aufgewendet – der mit Abstand größte Betrag im OECD-Vergleich. Finnland lässt sich die Ausbildung seiner Jugendlichen dagegen nur 52.621 Euro (724.066 Schilling) kosten. Der Pisa-Sieg war ihnen dennoch gewiss. Grund genug, einmal mehr die Effizienz der österreichischen Bildungsstätten zu hinterfragen. Höchste Zeit auch, wie von Bildungsministerin Elisabeth Gehrer angekündigt, die Lebensgehaltskurve der Lehrerinnen und Lehrer abzuflachen (und das Anfangsgehalt zu erhöhen), fließt doch ein Großteil des Budgets in die Remuneration der Pädagogen. Auch hinsichtlich der Lesekompetenz ist Ernüchterung eingekehrt: So wird die Freude über das gute Abschneiden der rund 5.000 getesteten österreichischen Schülerinnen und Schüler – sie hatten im deutschsprachigen Raum das beste Resultat erzielt – durch beunruhigende Zahlen getrübt: Immerhin 14 von 100 Schülern können selbst einfache Texte nicht verstehen und sind damit „nicht zukunftsfähig“. Zudem hält sich die Lust am Buch in Grenzen: So geben 42 Prozent der Jugendlichen an, nur aus Zwang zu lesen. Was das ideale Schulsystem betrifft, werden indes aus der Pisa-Studie unterschiedlichste Schlüsse gezogen. Nachdem alle neun vor Österreich liegenden Staaten Gesamtschulsysteme besäßen und auf eine frühzeitige Selektion verzichten würden, führe nach Meinung des Grünen Bildungssprechers Dieter Brosz an der Gesamtschule „kein Weg mehr vorbei“. Anlässlich der Behandlung des Bildungsvolksbegehrens im parlamentarischen Unterrichtsausschuss forderte er auch mehr Fördermaßnahmen für sozial Benachteiligte, vor allem für Migranten. So liege Österreich hinsichtlich der Leistungs- unterschiede zwischen Zuwander-ern und inländischen Schülern im Verhältnis zu zehn europäischen Vergleichsländern an letzter Stelle. Gegenteilig lauten die Erkenntnisse, die Ministerin Gehrer aus der Studie
gewinnt: „Eine Eintopfschule oder Gesamtschule bringt einfach keine besseren Ergebnisse“, betonte Gehrer in der ORF-Pressestunde und verwies auf Deutschland, wo Länder wie Bayern mit einem differenzierten, also nach Hauptschule und Gymnasium aufgegliederten Schulsystem deutlich besser abgeschnitten hätten als Länder mit Gesamtschulen.
Freilich: Gesamtschule ist nicht Gesamtschule. Wenn auch in den deutschen Varianten nicht alles zum Bes-ten steht: Von einer „Eintopfschule“ ist Pisa-Sieger Finnland weit entfernt. „Die Finnen haben ein besonders ausgeprägtes, binnendifferenziertes Sys-tem mit Ganztagsschulen“, weiß Schulforscher Haider. Da sie auch um ein Drittel weniger Unterrichtsstunden hätten, bliebe etwa zwischen acht und fünf Uhr mehr Zeit für Übungen. An einem abgespeckten Lehrplan – und den obligaten ideologisch aufgeheizten Debatten (siehe Latein) – führt also kein Weg vorbei. Es gilt, Raum zu schaffen für mehr Fördermöglichkeiten und mehr Wahlfreiheit. Gerade die von allen gewünschte Reform der AHS-Oberstufe zwingt zur Besinnung auf das, was wirklich wichtig ist – zuvorderst wohl die Beherrschung der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen. Wurden mit Pisa 2000 erste internationale Benchmarks gesetzt, so steht schon 2003 die nächste Erhebung mit Schwerpunkt Mathematik ins Haus. Drei Jahre später folgt der Test in den Naturwissenschaften. Für kommenden Sommer stellt Günter Haider noch zwei Detailberichte in Aussicht, in denen etwa die Zusammenhänge zwischen Schülerleistungen und sozioökonomischen Faktoren im Zentrum stehen. Ob sich der internationale Pisa-Aufwand von über hundert Millionen Euro lohnt, wird sich weisen. Für Österreich ist das Geld – 1,2 Millionen Euro pro Zyklus – jedenfalls gut angelegt, gilt es doch, den gravierendsten Mangel auszumerzen: „Was das Messen von Schulleistungen betrifft“, weiß Günter Haider, „ist Österreich das absolute Schlusslicht der EU.“

Infos zur Pisa-Studie
unter
www.pisa-austria.at
www.pisa.oecd.org




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