17.04.2002 10:57 MEZ

Eckiges gerade gebogen
Die Auflösung des Jugendgerichtshofes entspricht Böhmdorfers Rechtsverständnis - ein Kommentar von Samo Kobenter

Erstens zum Atmosphärischen: Am Montagabend verdichteten sich die Gerüchte, dass der Wiener Jugendgerichtshof aufgelöst und in das Straflandesgericht integriert werden soll. Am Dienstagvormittag bestätigte das Justizministerium, dass ein entsprechender Antrag dem Ministerrat vorgelegt wird. Am frühen Nachmittag erfuhren es die Richter und der Leiter des Gerichts, Udo Jesionek - per Fax aus dem Justizministerium. Was ihnen vorher an Informationen vorgelegen ist, stammte aus der Gerüchteküche und wurde mit Vorsicht genossen. Seit Dienstag ist das anders, ohne dass die Betroffenen mehr tun können, als einer Einladung von Justizminister Dieter Böhmdorfer zu einem Gespräch über eine Reform nachzukommen, die ihnen fertig auf den Tisch geknallt wird. Zweitens zum Historischen: Der Jugendgerichtshof wurde 1928 gegründet, weil bereits damals klar war, dass sich Jugendkriminalität in der Großstadt anders abspielt als das Kirschenstehlen auf dem flachen Land. Die Einrichtung funktionierte mehr als siebzig Jahre lang tadellos, sieht man von 1938 bis 1945 ab, als der Jugendgerichtshof dem Straflandesgericht untergegliedert wurde. Aber selbst die Nazis lösten das Haus in der Rüdengasse nicht auf, sondern ließen die Richter dort arbeiten. Das soll jetzt anders werden, die Richter müssen in das Straflandesgericht übersiedeln. Zu den 80 dort bereits beschäftigten kommen nun also 16 weitere dazu. Was die Qualität der Arbeit in diesem Moloch anlangt, konnte bereits bisher nur in Ausnahmen Erfreuliches berichtet werde. Das dürfte sich so rasch nicht ändern, rechnet man hinzu, dass auch die begleitenden Maßnahmen wie Jugendgerichts- und Bewährungshilfe dort abgewickelt werden. Für die beklagten Jugendlichen dürfte die nun strukturell eingerichtete Nachbarschaft zu einem Milieu, von dem möglichst lang sie fern zu halten die Grundidee des Jugendgerichtshofes war, alles andere denn präventive Wirkung haben. Drittens zum Faktischen: Minister Böhmdorfer argumentiert - abgesehen von Sparmaßnahmen, deren Sinn angesichts der nun entweder dislozierten oder mitübersiedelten Begleitmaßnahmen wie eben Bewährungs- und Gerichtshilfe noch zu überprüfen wäre - mit organisatorischen Überlegungen: So hätte der Jugendgerichtshof auch spezielle Pflegschaftssachen bis zum 21. Lebensjahr zu entscheiden, mit dem Ergebnis, dass für einen Jugendlichen in Wien zwei Pflegschaftsgerichte zuständig sein könnten. Richtig, nur: Bis zur Reform im vergangenen Sommer war das Jugendgericht für die 14-bis 18-Jährigen zuständig. Die Reform der Jugendgerichtsgesetz-Novelle 2001 machte es auch für die 18- bis 21-jährigen "jungen Erwachsenen" zuständig, was ihm einen zusätzlichen Arbeitsanfall von 67 Prozent bescherte. Viertens zum Strategischen: Selbst unter der Annahme, dass Böhmdorfers Organisationsfähigkeit nur in Chaosmustern abbildbar ist, kann man in seinem Vorgehen etwas erkennen, das in der FPÖ durchaus Methode hat: Zuerst wird einem System zusätzlich Kompetenz aufgebürdet, ohne die entsprechenden Ressourcen zur Bewältigung zu gewähren, und dann wird unter Verweis auf diesen Mangel das System aufgelöst oder einem genehmeren eingebaut. Fünftens zum Politischen: Mit der Auflösung des Jugendgerichts wird das
Lebens- werk eines Unbequemen vernichtet. Jesionek, der ohnehin bald in Pension geht, steht für eine links gedachte und begründete Struktur - und die muss eben weg. Die Auflösung dieser Struktur, die auf die speziellen Lebensumstände Jugendlicher Rücksicht nimmt, entspricht einer rechten Judikatur, die einem prioritär angesetzten Schutz des Gemeinwohles die individuelle Bewertung des jeweiligen Tatbestandes opfert. International gesehen setzt Böhmdorfer einen weiteren Schritt zum Abbau der liberalen österreichischen Rechtsprechung: Danke, Herr Minister.

(DER STANDARD, Print- Ausgabe, 17. 4.2002)

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Wer Augen hat zu sehen, ...
mfg
Ronald Eidenberger
Maria Hülf


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