Lieber Kollege Friebel,

Sie schreiben als Atwort auf meine doch, wie ich hoffe, einigermaßen differenzierte Darstellung der Problematik "Kern - und Erweiterungsbereich" bzw. allgemein Wahl- (und damit auch Abwahl-) Möglichkeiten in einer sinnvollen Oberstufen-Reform:

> Die Differential- und Integralrechnung sind in Mathematik nämlich
> nicht irgendwelche Erweiterungsgebiete, sondern ganz zentrale Gebiete,
> auf denen vieles (sowohl innerhalb der Mathematik, als auch in anderen
> Wissenschaften) aufbaut.
>
> Ich komme ja auch nicht auf die Idee, etwa in Deutsch die gesamte
> Literaturgeschichte, in Geschichte die Neuzeit oder in Chemie die
> organische Chemie streichen zu wollen. Das wäre dann eben keine
> allgemeinbildende Schule mehr.

Erlauben Sie mir, Ihnen auf diese doch recht fachspezifische Ausführung folgendes Zitat näher zu bringen:

"Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn wir vergessen, was wir gelernt haben." Edward Frederick Lindley Wood Lord Halifax

Und da, lieber Kollege, wird mir sehr wohl bewusst, dass sich der Bildungswert des Gegenstands Mathematik nicht in Integral- oder Differentialrechnung, der Bildungswert Deutsch nicht in Grillparzer, Bernhard oder Indo-Europäistik, der Bildungswert von Geschichte nicht in 13 oder 89 oder 276 Namen oder Jahreszahlen, der Bildungswert von Biologie sich im An-Gelernten erschöpft / erschöpfen kann / erschöpfen darf. Bildung, gebildet sein heißt - auf Mathematik bezogen, gesehen von einem Nicht-Mathematiker! - sicher nicht, irgend wann einmal Integral oder Differential gerechnet zu haben, sondern Proportionen, Relationen, erwartbare Ergebnisse abschätzen zu können. Für Letzteres bin ich meinen Mathematiklehrern dankbar, für Ersteres bedauere ich die zig Stunden, die nötig waren, das anzulernen, was nach der Matura ich nie wieder zu gebarauchen die Freude hatte. Ähnlich sehe / sähe ich die Situation für Deutsch: Was soll bleiben, nachdem vergessen wurde, was gelernt werden musste? Sicher das Wissen um kontroversielle Beurteilung von vorgeblich gleichen Sachverhalten, auch das Sich-ausdrücken-Können in einer gegebenen kommunikativen Situation, natürlich das Analysieren und Bewerten gegebener Textsorten, die später das studentische / berufliche / "private" Leben mit bestimmen. Schön wäre es, wenn sich die SchülerInnen ein Bild über die wichtigsten Aspekte literarischer Texte machten, lieber wäre es mir, wenn sie auch nach der AHS noch gern Bücher läsen, ins Theater gingen und Kino jenseits des amerikanischen Mainstreams begriffen.

Sie sehen schon, mir ist dieses "Mein Gegenstand ist der Wichtigste und wenn da was abgezwackt wird geht die Allgemeinbildung den Bach hinunter" - Haltung einigermaßen zuwider. Was denn nun wirklich unabdingbares Wissen und Können sei, ohne das eine AHS diesen Namen nicht mehr verdiente, darüber müsste man reden.

Darüber müsste man rede. Muss man aber nicht, da den meisten der Status quo ohnehin lieber ist als das Hinterfragen eigener Einstellungen. Das aber, lieber Kollege Friebl, ist ein anderes Kapitel.

Gute Nacht!
Timo Davogg

(25 04 23h45)




--
Diese Liste wird vom Computer Communications Club (http://www.ccc.at) betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im Nachrichtentext.