Liebe Kolleginnen und Kollegen

Seit Jahren warnt die GEW vor Gewalt an den Schulen und fordert von der Politik, der Diffamirung von Lehrern entgegenzutreten. Ich bin vor allem erschüttert und auch empört, weil das nachstehende Interview vom Dezember 1999 auch von gestern sein könnte.

Erich Themmel


SPIEGEL ONLINE - 02. Dezember 1999, 16:35
URL: http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,54943,00.html
Gewerkschaft

"Die Lehrer werden alleine gelassen"

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) wirft den Kultusministerien vor, das Problem von Gewalt an deutschen Schulen zu verharmlosen. Sie fordert eine bessere Konfliktprävention für Lehrer und Schüler und will auch Eltern stärker in die Verantwortung nehmen. Ein Gespräch mit der Bundesvorsitzenden der GEW, Eva-Maria Stange.

SPIEGEL ONLINE: Die Vorfälle der vergangenen vier Wochen in Meißen, Kamenz und Deggendorf haben vielen Lehrern Angst vor ihren Schülern eingejagt. Wie haben die Lehrer darauf reagiert?

Eva-Maria Stange: Zum Fall in Deggendorf haben sich noch keine Lehrkräfte bei uns gemeldet. Allerdings haben sich seit dem Mordfall in Meißen schon viele Kollegen zum Thema "Gewalt an Schulen und gegen Lehrkräfte" geäußert. Die Lehrer haben darauf aufmerksam gemacht, dass sie das Problem nicht alleine bewältigen können, sondern dass es einer Lösung im gesellschaftlichen Kontext bedarf. Es ist bemerkenswert, dass sich die Lehrkräfte überhaupt zu dem Thema äußern.

SPIEGEL ONLINE: Warum haben bisher so viele geschwiegen?

Stange: In den östlichen Bundesländern haben die Lehrer oft Angst, in der Öffentlichkeit aufzufallen, oder wollen ihre Schule angesichts des massiven Schülerrückgangs in einigen Ländern nicht in Misskredit bringen. Generell hat die massive Diffamierung der Lehrkräfte in den letzten Jahren deutlich ihre Wirkung gezeigt: Die Kollegen haben sich immer seltener öffentlich zu Wort gemeldet aus Angst, dass der Lehrerberuf dadurch noch weiter diskreditiert wird.

SPIEGEL ONLINE: Wer hat denn die Lehrkräfte diffamiert?

Stange: An dem schlechten Ruf haben viele Politiker mit Schuld. Dazu zähle ich zum Beispiel einen Staatssekretär in Baden-Württemberg, der in aller Öffentlichkeit sagt, wie faul die Lehrkräfte seien, aber auch unseren Bundeskanzler. Das läuft schon seit einigen Jahren so. Insofern ist der Ruf der Lehrer in der Öffentlichkeit sehr geschädigt. Auch das hat sicher dazu geführt, dass die Lehrer versuchten, Konflikte zunächst alleine oder innerhalb der Schule zu lösen.

SPIEGEL ONLINE: In vielen Fällen haben sich Kinder und Jugendliche Horrorfilme zum Vorbild für Gewalttaten genommen. Treiben die Medien Kinder in die Gewalt?

Stange: Untersuchungen belegen, dass Jugendliche, die öfter gewaltverherrlichende Videos angucken, besonders anfällig für Gewalttaten sind. Auch die Berichterstattung der Medien über solche Fälle trägt dazu bei. In Sachsen sind seit dem Vorfall in Meißen zum Beispiel mehrere Konfliktfälle eingetreten. Es handelt sich offenbar um einen Nachahmeffekt, mit dem Kinder etwas erreichen und andere unter Druck setzen wollen. Dagegen muss man vorgehen. Die Medien sollten deshalb bei der Berichterstattung sehr sensibel sein.

SPIEGEL ONLINE: Was muss man unternehmen, um Gewalt an Schulen vorzubeugen?

Stange: Obwohl das kein neues Thema ist, haben wir darüber noch einmal sehr intensiv beraten. Wir haben - vor allem in den östlichen Bundesländern - eine neue Schülergeneration, die stärker in die Kommunikation und Mitbestimmung des schulischen Lebens einbezogen werden muss. Deshalb sollte es mehr Schulungen für Lehrkräfte und Initiativen wie das Projekt "Schule ohne Gewalt" in Sachsen geben. Dabei suchen wir gemeinsam mit Lehrern nach Möglichkeiten, den Ursachen von Gewalt in der Schule selbst entgegenzuwirken. Das kann zum Beispiel geschehen, indem man den Schulhof so gestaltet, dass sich die Kinder austoben können. Gut sind auch Schulclubs, die sich nachmittags für die Interessen der Schüler öffnen. Eine ausgezeichnete Möglichkeit der Prävention ist schließlich, Schüler zu Konfliktmanagern auszubilden, so dass sie fähig sind, Konflikte mit Mitschülern selbst zu regeln.

SPIEGEL ONLINE: Was halten Sie von Überwachungsmethoden mit Videokameras oder Sicherheitspersonal, wie sie in den USA praktiziert werden?

Stange: Wir wissen, dass viele Lehrkräfte sich stärkeren Schutz wünschen. Aber es nützt überhaupt nichts, wenn wir amerikanische Verhältnisse einführen. Strenge Kontrollen am Schuleingang durch Detektoren und Sicherheitskräfte würden Kinder geradezu provozieren. Ich habe das vor kurzem in amerikanischen Highschools selbst erlebt: Wenn ich als Erwachsener durch einen Sicherheitscheck wie am Flughafen gehen muss und mich gleich dahinter eine Sicherheitskraft in Uniform beargwöhnt, dann erzeugt das selbst bei mir ein Gefühl der Aggression.

SPIEGEL ONLINE: Welche Konsequenzen muss die Politik aus den Vorfällen der vergangenen Zeit ziehen?

Stange: Die Politiker müssen dieses Problem erst einmal zur Kenntnis nehmen. Das sächsische Kultusministerium hat das Thema bisher verharmlost, obwohl es zahlreiche Anzeichen und Untersuchungen dazu gegeben hat. Aber auch die anderen Kultusministerien tun zu wenig in diesem Bereich. Sie überlassen es im wesentlichen den Schulen oder Lehrern, damit fertig zu werden. Die Klassengrößen müssen soweit verringert werden, dass Lehrkräfte sich individuell den Problemen der Kindern zuwenden können. Außerdem muss das Schulklima stressfreier gestaltet werden, um die Kinder nicht zu stark unter Leistungsdruck zu setzen. Aber auch die Eltern müssen ihren Teil beitragen: Sie sollten öfter das Gespräch suchen und sich bewusst dafür einsetzen, dass die Schule als Bildungsinstanz wieder an Wert gewinnt.

Das Interview führte Nicole Adolph



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