Frankfurter Rundschau 30 04 02

Letzte Zeichen an die Welt

Gespiegelte Ratlosigkeit: Der Täter von Erfurt und wir

Von Manfred Schneider

Wen könnten wir anklagen - die Schule? Die Eltern? Die Videospiele? Das Waffengesetz? Die Gesellschaft? Den Verlust der Werte? Die Fahndungsaktionen der Polizei, der Politiker und der Journalisten in den Tagen nach dem Erfurter Freitag brachten keinen Schuldigen hervor, auf den wir unser Entsetzen laden könnten. Durch alle Nachrichten und Kommentare, die uns erreichen, geistert nur eine dunkle Gestalt, und das ist die Ratlosigkeit. Über dem Abgrund der Grundlosigkeit dieser Tat lässt sich kein rettendes Netz legen. Ein Neunzehnjähriger, der binnen weniger Minuten sechzehn Menschen tötet und diese Serie mit seinem Selbstmord beschließt, tut das nicht, weil er zu viele Videos gesehen hat, weil die Waffen so leicht zu bekommen sind, weil er von der Schule verwiesen wurde, weil die Werte verfallen oder weil die Eltern sich nicht verstehen. Es gibt nicht einen Grund, es gibt nicht den Schuldigen. Es gibt nichts als diese Tat, mit der ein junger Mann seine letzten Zeichen an die Welt adressierte.

Eine grauenhafte, aber ersichtlich genau und überlegt geplante Tat. Sie war kein Amoklauf, wie in der Verwirrung gerne gesagt wird. Vielmehr ein beängstigend präziser, in vielen Details überlegt inszenierter Schlussakt eines Schülerlebens, dem trotz aller anderen Kontakte offenbar mit der Schule der grundlegende Bezug verloren gegangen war, und der nur noch das mitteilen wollte.

Aber der Täter, dem sich die Alternativen zum Mord und zum Tod verschlossen hatten, und die Welt, die mit der Sinnlosigkeit dieser Tat konfrontiert ist und der auch alle Erklärungen verloren gegangen sind, stehen sich in entfernter Ähnlichkeit gegenüber. Denn alles, was uns im Anschluss an die Tat zunächst einfällt, das ist die Serie ähnlicher Taten in der Welt und in den Medien, die Namen von Orten ähnlicher Schulmordserien: Littleton, San Diego, Tokyo, Freising, Brannenburg. Und dabei fällt auf, dass wir tatsächlich nur noch die Orte und nicht mehr die Namen der Täter wissen. Wir können nur aufzählen, in welche Serie diese Tat gehört.

Erinnernde Serialisierung

Am Freitagabend zeigten die beiden öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten jeweils eine Dokumentation über Serienmörder, von Georg Stefan Troller und von Gero von Boehm. Alle diese Dokumentarfilme tragen nichts zur Erklärung bei. Sie dokumentieren ähnliche Bluttaten und sagen uns nur: Das geschieht immer wieder. Sie sagen zugleich: Wir können unseren Schrecken nicht anders abarbeiten als in dieser erinnernden Serialisierung einer Tat, die selbst die Serie der Tötungen wählte, um einen furchtbaren Hass zu erschöpfen und damit das ganze eigene Leben. Aber die Gleichgültigkeit, mit der diese Boten des Todes so völlig unschuldige Menschen abschießen, sollten wir nicht mit der gleichen Gleichgültigkeit gegenüber den Tätern beantworten. Jede Geschichte ist trotz vieler Ähnlichkeiten anders, und zuletzt sind es jeweils andere Vorbilder, die der undenkbaren Tat ihre Form abtraten.

Dass zumal Schüler und Studenten Verzweiflungstaten begehen, wenn Prüfungen misslingen, das kennt man. Früher hat man noch das Erziehungssystem beschuldigen können, grausame oder sadistische Lehrer, wenn Schüler ihrem Leben ein Ende setzten. Heute ist die Schule in einem Maße befriedet, dass Gewalt nur noch auf Seiten der Schüler vorzukommen scheint. Keine Lehrerhand gleitet mehr aus, kein Rohrstock wird mehr geschwungen, es werden sogar eigens Schulgewalten erfunden, wie der "Leistungsdruck", um die Schüler auch davon noch zu befreien. Aber Friede scheint nicht eingekehrt zu sein. Durch unsere Gesellschaft geistert eine fiktive Zahl von möglicherweise 150 000 gewaltbereiten Schülern. An dieser Zahl hat die Paranoia, die uns stets erfasst, wenn schlimme Dinge geschehen, mitgerechnet.

Nicht die Gewalt vergrößert sich, sondern unsere Angst vor ihr. Sinnlos wie die Tat ist die Liturgie der Reden, wonach die Gewalt in den Schulen ständig zunehme. Es gibt ohne Zweifel Schulen in schwierigen städtischen Bezirken, wo auch die Zahl der Konflikte größer ist als anderswo. Schulen sind ein Teil der Welt. Aber das Erfurter Gutenberg-Gymnasium eignet sich nicht als Ort, an dem nun exemplarisch eine kritische Schullage studiert werden könnte. Wenn es in Deutschland keine neue Erfahrung mehr ist, dass Schüler zur Waffe greifen, um in einer schrecklichen letzten Inszenierung ihr eigenes Zerstörtheitsgefühl der Schule mitzuteilen, dann hat ersichtlich Deutschland Anschluss an den Rest der Welt gefunden.

Vielleicht kann man doch in dieser gespiegelten Ratlosigkeit, in der Ratlosigkeit eines jungen Mannes und der Ratlosigkeit der Welt, die seinem blutigen Ernst ins Auge blicken muss, etwas erkennen. "Er war unauffällig", so sagen diejenigen, die ihn kannten. Und das scheint die große Irritation zu sein. Nichts an dem Neunzehnjährigen deutete auf eine solche Tat hin, in keiner Falte seines Gesichts saß ein Orakel der schießenden Hand. Manche Meisterpsychologen behaupten nun, dass sich eine solche Tat bereits in kleinen Anzeichen ankündigte, dass sie Vorboten emittierte. Das ist die Weisheit der Nachträglichkeit. Die Schreckenstaten junger angepasster Männer geben uns leider nur eines zu erkennen: dass die black box der Seele in aller Stille Ungeheuer ausbrüten kann.

Der Wunsch, gesehen zu werden

Die auffällige Unauffälligkeit des Erfurter Mörders schwindet auch nicht vor den trivialen Details seines Lebens, an die sich nun die öffentliche Diskussion heftet: dem Schützenverein, den Gewaltvideos oder Gewaltcomics. Die Unauffälligkeit besagt wohl vor allem, dass dieser Robert S. offenbar nicht wahrgenommen wurde. Der Bericht des letzten Menschen, mit dem der Täter sprach, der Lehrer Rainer Heise, gibt ein kleines sprechendes Detail
preis: Kurz ließ der Schütze seine Waffe sinken, er zog die Maske vom Gesicht, als er erblickt und angesprochen wurde. Ein flüchtiger Sinn der Inszenierung und der mörderischen Serie lässt sich darin vielleicht erkennen, der Wunsch: gesehen zu werden, einmal die Blicke der Welt auf sich gerichtet zu wissen.

Niemand wird mit Sicherheit sagen können, ob der Täter seinen Hass erschöpft hatte, als er vor dem Lehrer Heise die Pistole sinken ließ, oder ob es dieser Blick war: Er stieg aus seiner Show aus, obgleich er noch mehrere hundert Schuss Munition in Reserve hatte. Als er seine Tat plante, konnte er sich nicht vorstellen, dass sein Hass sich erschöpfen würde.

Es gab so viele Momente an dieser Gewalttat, die auf Absicht, Planung, Inszenierung deuteten: die Kleidung, die großen Mengen Munition, die gezielten Schüsse, die Adressierung. Sie geben der Vermutung Rückhalt, dass diese Tat auch eine Botschaft war. Sie lässt sich nicht aufs Wort entziffern, sie erlaubt aber den Hinweis, dass juvenile Gewalt aller Schattierungen zumeist eine Art von Sprache ist. Und sie ist es gerade, weil diese Sprache so ubiquitär ist. Es ist nicht die Gewalt als Gewalt, die sich in solchen und weniger entsetzlichen Taten ausspricht, sondern die Gewalt als eine Sprache. Mit ihr treten junge Leute aus der Unauffälligkeit hervor, unter der sie vielleicht berechtigterweise, vielleicht nur in einer Adoleszenzkrise leiden.

Zwei Momente des Serienmordes sind lesbare Zeichen. Da ist einmal die Schule ausgewählt worden. Und Opfer wurden nicht bestimmte Lehrer, von denen sich der ehemalige Schüler vielleicht ungerecht behandelt fühlte, sondern wahllos die Vertreter der Institutionen, eine Sekretärin, Lehrerinnen, Lehrer, ein Polizist. Diese Selektion einerseits und die nicht minder furchtbare Wahllosigkeit andererseits sind eine Nachricht. Da der Neunzehnjährige offenbar die Schule nicht verlassen wollte und vor den Augen seiner Eltern auch weiter den Schüler spielte, lässt sich erahnen, dass ihn diese Institution offenbar getragen hat und dass er den Verlust nicht verkraftet hat. Der Hass zeigt, welche Liebe gekränkt worden ist. Vermutlich müssen wir unsere Ratlosigkeit noch bis zu diesem Punkt steigern, dass wir sagen: Die Schule hat alles richtig gemacht.

Gewaltvideos spielen im allgemeinen nicht in den Schulen. Leider aber hat die Politik die Schulen und Bildungsinstitutionen zum Lieblingsort politischer Bastelei erkoren. Die Anzeichen mehren sich, dass man nun erneut an ihnen herumdoktern wird. Die Schulen in positiver Form ernst zu nehmen als fundamentale Institutionen, wie es der Täter von Erfurt in mörderischer Form getan hat, das wäre das einzige vernünftige Äquivalent zu der Trauer, die uns lange nicht verlassen wird.



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