Frankfurter Rundschau 30 04 02
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Mut zur Verantwortung
Die Lebenszeichen einer vom Individualismus geprägten Gesellschaft waren immer dann am überzeugendsten, wenn unübersehbar geworden ist, dass etwas gründlich schief läuft
Von Richard Meng
So hilflos es zunächst auch aussieht: Wenn nach den Erfurter Ereignissen allseits eine Debatte über Gewalt und Werte angekündigt wird, kann man nur hoffen, dass es tatsächlich dazu kommt. "Solides Durchregieren" allein, wie es der Kanzler vor einer Woche aus anderem Anlass bis zum nächsten Wahlabend angesagt hatte, reicht als Antwort nicht aus. Der Staat beginnt richtigerweise, im Konkreten zu reagieren. Aber gerade weil mancher Politikerauftritt in aller staatsmännischen Getragenheit immer auch ein hohes Maß an wahltaktischer Finesse einschließt, ersetzt das nicht die tiefer gehende Wertedebatte. Sie muss auch von den Schulen und Elternhäusern handeln, jenseits des gesetzlich Regelbaren.
Gerade die aufs Leistungsniveau reduzierte Art, wie in großen Teilen der Öffentlichkeit in den vergangenen Monaten über die Ergebnisse der "Pisa-Studie" gesprochen worden ist, hatte den Druck auf die Schule in eine einseitige Richtung erhöht: Allein auf den Platz in der internationalen Tabelle schien es noch anzukommen. Dass Schule ein Ort von Erwachsenwerden ist, dass hier auch der Umgang mit Konflikten gelernt wird (und zwar unabhängig davon, ob das den Beteiligten bewusst ist), schien nicht mehr zu interessieren.
Gewalt ist, im primitiven Video wie im richtigen Leben, in der Regel Gewalt gegen Schwächere. Wie an den Schulen mit Schwächeren umgegangen wird, ist jetzt sehr wohl der Debatte wert. Das bequeme alte Auswahlprinzip hat schließlich immer nach demselben Muster funktioniert: Wer die Anforderungen nicht schafft, mit dem sollen sich andere herumschlagen. Wer herausfällt aus der angehenden Elite, ist dann eben weg vom Gymnasium, aus den Augen und aus dem Sinn. Das Paradoxe ist, dass "Pisa" eigentlich gerade diese sozialen Defizite des deutschen Bildungswesens, das die Begabungen nicht wirklich ausschöpft, aufgedeckt hatte. Dass es interessierten Interpreten aber fast schon wieder zu gelingen schien, die Ergebnisse umzudeuten in eine Bestätigung überkommener Praxis.
Umso ärgerlicher ist es, wenn aus der CDU nun mit der alten Kampfformel "Mut zur Erziehung" operiert wird. Weniger wegen des Wortsinns, sondern wegen des damit Gemeinten: Es wird nicht funktionieren, das Rad zurückzudrehen und Lehrer und Eltern wieder zu unangreifbaren Autoritäten zu machen. Erziehung für eine freie Gesellschaft muss Raum lassen, aber sie muss sich zugleich kümmern und die Kinder dabei ernst nehmen. Mut zur Verantwortung wäre der bessere Begriff. Auch in den Klassenräumen und Kinderzimmern beginnt Verantwortung mit Hinsehen und Einmischen. Da sollten die üblichen Entschuldigungen nicht mehr zählen, sei es der Berufsstress der Eltern oder die immer noch viel zu fachwissenschaftliche Lehrerausbildung.
Das Problem des Umgangs der Gesellschaft mit Gewalt beginnt da, wo Gewalt oder auch nur Gewaltfantasie und ihre Idole unwidersprochen akzeptiert werden. Keine neue Erkenntnis? Das stimmt. Aber es stimmt auch, dass die Lebenszeichen einer vom Individualismus geprägten Gesellschaft immer dann am überzeugendsten waren, wenn unübersehbar geworden ist, dass etwas gründlich schief läuft.
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