Süddeutsche 30 04 02

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Alles oder nichts

Kritik an Thüringer Schulsystem

Von Jens Schneider

Die einzigartige Regelung im Thüringer Schulwesen ist in einem schlichten Satz zusammengefasst: „Das Gymnasium führt zur allgemeinen Hochschulreife/zum Abitur; andere Abschlüsse können am Gymnasium in Thüringen nicht erworben werden.“ Das bedeutet: Wenn Schüler aus der Oberstufe des Gymnasiums die Abiturprüfung nicht bestehen oder wegen ihrer Leistungen in den letzten Semestern der Oberstufe nicht zur Prüfung zugelassen werden, können sie es in Thüringen noch ein zweites Mal versuchen. Scheitern sie dann aber erneut, müssen sie die Schule ohne jeden Abschluss verlassen. Anders als in anderen Ländern haben sie dann nicht einmal einen Hauptschulabschluss, geschweige denn die Mittlere Reife.

Gescheiterte Abiturienten

Der Sprecher des Thüringer Kultusministeriums, Dietmar Müller, erklärt dazu aber, dass ein solcher Schüler in jedem Fall „ein Versetzungszeugnis aus der elften in die zwölfte Klasse hat“. Dies sei „doch wohl höherwertig als ein Hauptschulabschluss oder ein Realabschluss.“ Mit diesem Übergangszeugnis könne sich jeder Schüler ja um eine Lehrstelle bewerben. Ein Arbeitgeber werde sich dann selbst ein Bild von ihm machen. Der Amokläufer von Erfurt, der 19 Jahre alte Robert Steinhäuser, war vor einem Jahr am Abitur gescheitert und wiederholte dann das 12. Schuljahr. Im Oktober 2001 wurde er – so das Kultusministerium – nach der Fälschung von Krankmeldungen der Schule verwiesen. Aus diesem Grund wird die Regelung für gescheiterte Abiturienten in Thüringen jetzt diskutiert. In der Thüringer Allgemeinen, der wohl wichtigsten Zeitung in Erfurt, bezeichnete ein Kommentator es am Montag als „hartherzig und unverständlich“, dass ein Abiturient „nach verhauenen Prüfungen hinter einen Hauptschulabschluss zurückgestuft“ werde. Ob die Eltern des Amokschützen schriftlich über den Verweis informiert wurden, konnte offenbar noch nicht geklärt werden. Sie waren nach Angaben der Polizei noch am Tag des Amoklaufs davon ausgegangen, dass ihr Sohn eine Abiturprüfung ablegt. In allen anderen Bundesländern haben Schüler in vergleichbarer Situation nach Auskunft der Kultusministerkonferenz automatisch die Mittlere Reife erreicht. Das sei, so erklärt etwa der Sprecher des Kultusministeriums in Sachsen, für Gymnasiasten mit der Versetzung von der zehnten in die elfte Klasse garantiert. In elf der sechzehn deutschen Länder wird gescheiterten Abiturienten sogar die schulische Fachhochschulreife bescheinigt, die in der Regel nach einem Praktikum den Besuch einer Fachhochschule ermöglicht.

Abschluss ohne Prüfung

Warum macht Thüringen eine Ausnahme? „Weil der Andrang an den Gymnasien nicht mehr zu bewältigen wäre“, begründet Dietmar Müller vom Erfurter Kultusministerium. Noch mehr Schüler würden die Schullaufbahn am Gymnasium wählen, „weil da habe ich dann meinen Abschluss, ohne je eine Prüfung gemacht zu haben“. Auf Antrag könnten Gymnasiasten in den Klassenstufen zehn, elf oder zwölf die Realschulabschlussprüfung an einer Regelschule ablegen, heißt es im Informationsmaterial des Thüringer Kultusministeriums. Die öffentliche Diskussion über diese Regelung sieht die Behörde als Debatte zur Unzeit an. Warum solle man nach der unerklärlichen Tat eines Wahnsinnigen ein erfolgreiches Schulkonzept ändern“, fragt Müller.


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