Frankfurter Rundschau 04 05 02

Warum Männer Amok laufen

Teil 1

Taten wie in Erfurt werden fast immer von Männern verübt, häufig von jungen Männern. Es gibt ein Konzept, das das Risiko für jede Form der Gewaltkriminalität verringern kann, schreibt der niedersächsische Justizminister Christian Pfeiffer. Ein Essay zur Biografie von Gewalt und Zivilcourage.

Der Amoklauf von Erfurt fand erst dann sein Ende, als sich der mutige Lehrer Rainer Heise dem Täter entgegen stellte. Nach Einschätzung der Polizei wäre die Zahl der Todesopfer sonst erheblich größer gewesen. Für diese Erkenntnis, wonach das couragierte Einschreiten einer Person der kriminellen Gewalt Grenzen setzen und sie im günstigen Fall sogar völlig verhindern kann, gibt es eine Fülle von wissenschaftlichen Belegen. Wenn etwa in einer bedrohlichen Situation eine Person die Initiative ergreift und Zuschauer auffordert, sich gemeinsam der Gewalt entgegen zu stellen, verdoppelt sich die Quote derer, die zum Einschreiten bereit sind. Ein einzelner mutiger Mensch kann offenbar passive Menschen mit seinem Handeln motivieren. Verbindet man diese Erkenntnis mit dem, was sich aus der Begegnung des Amokläufers mit seinem Lehrer gezeigt hat, lässt sich daraus eine erste These ableiten: Wenn wir die Bereitschaft für Zivilcourage fördern, leisten wir wirkungsvolle Gewaltprävention.

Betrachten wir vor diesem Hintergrund die bisherige Debatte des Erfurter Geschehens, dann fällt auf, dass sie sich sehr einseitig auf den Täter konzentriert. Für ein umfassendes Präventionskonzept müssen wir aber auch klären, warum manche Menschen sich durch ein hohes Maß an Zivilcourage auszeichnen. Nachfolgend soll deshalb versucht werden, beiden Akteuren des Erfurter Geschehens gerecht zu werden. Da uns Informationen zu den individuellen Biographien von Robert Steinhäuser und Rainer Heise fehlen, kann hier nur auf generelle Erkenntnisse zum Werdegang von Amokläufern einerseits und couragierten Menschen andererseits zurückgegriffen werden.

Zu den Tätern: Es gibt ein breites Spektrum von Amokläufern: den Akteur eines erweiterten Selbstmordes; den, der wahllos in eine Menschenmenge
schießt; den, der aus Rache ein schreckliches Blutbad anrichtet. Bei allen Unterschieden zeigen sich viele Gemeinsamkeiten. Nach der etwa 200 Fälle einbeziehenden Untersuchung von Lothar Adler handelt es sich nahezu durchweg um Männer. Die maskuline Dominanz entspricht damit weitgehend dem Bild, das sich aus Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik zur Gewaltkriminalität ergibt. Bei der Altersgruppe des Erfurter Täters (18- bis 21-Jährige) lag die Quote der Männer, die wegen Gewalttaten registriert worden sind, im Jahr 2000 um das 12,5-fache über der der Frauen (1,9 % zu 0,15 %).

Im Vergleich zu anderen Gewalttätern verfügen Amokläufer erheblich häufiger über eine gehobene Ausbildung, zur Zeit der Tat war allerdings fast jeder zweite arbeitslos. Meist sind sie isolierte Einzelgänger, vertrauen sich kaum anderen Menschen an, sind im Kern Ich-schwach und unsicher. Niederlagen und Kränkungen können sie deshalb nur schwer verkraften. Im Alltag erleben sie sich als ohnmächtig, die Tat dagegen vermittelt ihnen für Augenblicke den Triumph höchster Macht - die Herrschaft über Leben und Tod. Angaben über die familiäre Sozialisation der Amokläufer sind oft nur lückenhaft. Weil sich die Täter meistens selbst töten, sieht die Justiz keinen Anlass mehr, Ermittlungen zur Persönlichkeit des Täters anzustellen. Eines wird aber
deutlich: Auch im Hinblick auf die Amokläufer bestätigt sich, was in Studien zur Jugendgewalt generell nachgewiesen werden konnte: Je stärker die Sozialisation junger Menschen von einem Mangel an Liebe und konstanter Zuwendung sowie von innerfamiliärer Gewalt geprägt ist, um so höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Betroffenen später selber Gewalt ausüben.

Ihre Schwäche kompensieren die Amokläufer oft dadurch, dass sie sich Schusswaffen zulegen, die ihnen das Gefühl von Macht geben und zu denen sie eine geradezu erotische Beziehung entwickeln. "Das Gewehr ist die Braut des Amokläufers", kann man in Abwandlung eines veralteten Militärspruches formulieren. Vor allem bei den jüngeren Amokläufern fällt auf: Ihre Tötungsfantasien und ihr Vorgehen haben sie offenbar an Bildern aus Computerspielen oder Horrorfilmen konkretisiert. Das trifft für die Schüler von Littleton ebenso zu wie auf den Täter von Reichenhall oder den 19-jährigen Robert Steinhäuser. Die Frage, ob dieser teilweise exzessive Medienkonsum als eine Hauptursache der Tat zu bewerten ist oder lediglich die Ausführungsart eines bereits bestehenden Mordplans beeinflusst hat, kann damit noch nicht beantwortet werden. Plausibel erscheint, dass derartige PC-Spiele und Filme bei hoch gefährdeten jungen Männern dazu beitragen, Tötungshemmungen abzubauen.

Auf eine Besonderheit der Amokläufer hat der Publizist Hans-Joachim Neubauer (Amok - Rätsel der Gewalt) aufmerksam gemacht. Sie inszenieren die Tat wie ein Schauspiel, in dem sie gleichzeitig der Regisseur und der große Held sind. Bewusst wird als Tatort der öffentliche Raum gewählt. Man braucht Publikum. Der Akteur kostümiert sich. Oft wählt er das kriegerische Outfit des Rambo-Kämpfers oder das Image des schwarz gekleideten, maskierten Rächers. Anscheinend legen die Täter es darauf an, mit ihrer Tat berühmt zu werden, einmal im Mittelpunkt des Medieninteresses zu stehen. Die Vorstellung davon entschädigt sie offenbar für das Loser-Image, unter dem sie im Alltag leiden.

In Erfurt ist diese Inszenierung des großen Showdowns durch die Begegnung mit Rainer Heise unterbrochen worden. Auf einmal stand dem Amokläufer da jemand gegenüber, der nicht in Panik flüchtet, sondern Auge in Auge den Kontakt sucht. Und weil der Täter die Maske abgenommen hat, kann Heise ihn mit der Autorität des bei den Schülern akzeptierten Lehrers anreden: "Robert..." Damit ist der Bann gebrochen. Das Spiel ist aus. Robert Steinhäuser ist zurück in der Realität. Des Mordens müde, bringt er sich um.

Folgt Teil 2



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