Frankfurter Rundschau 04 05 02

Warum Männer Amok laufen

Teil 2

Was wissen wir über Menschen, die in derart kritischen Situationen Courage zeigen oder, wenn sich andere in Not befinden, beherzt eingreifen? Zur Klärung dieser Frage haben die Wissenschaftler auch hier auf Experimente sowie biografische Interviews gesetzt, letztere mit Menschen, die in der Nazi-Zeit Juden gerettet hatten (Oliner/Oliner und Eva Fogelman). Die Befunde kann man in vier Punkten zusammen fassen:

- Gewaltfreie Erziehung fördert den aufrechten Gang. Menschen mit ausgeprägter Zivilcourage hatten ganz überwiegend Eltern, die sie bei Konflikten nicht autoritär oder mit Gewalt zu disziplinieren versucht haben, sondern mit ihren Kindern fair und argumentativ umgegangen sind.

- Liebevolle Erziehung fördert die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden und die Bereitschaft, sich für den leidenden Menschen einzusetzen. Die Judenretter hatten Eltern, die sehr liebevoll mit ihnen umgegangen sind und ihnen ein hohes Selbstwertgefühl vermitteln konnten. Mindestens einer der Eltern wird als jemand beschrieben, der sich engagiert für Menschen in Not eingesetzt hat und so zum Vorbild werden konnte.

- Eine Gleichrangigkeit der Eltern fördert eine innen gesteuerte Moral. Wenn bei Konflikten in der Familie stets der Vater dominiert, weil er das Geld verdient und über mehr Körperkraft verfügt, fördert das bei Kindern eine eher opportunistische Grundeinstellung. Man beugt sich den Machtverhältnissen. Wer dagegen demonstriert bekommt, dass die besser begründete Position Oberhand behält und zwischen den Eltern bei Konflikten ein wechselseitiges Nachgeben beobachtet, entwickelt eine starke Orientierung an Grundwerten.

- Eine Kultur der Anerkennung fördert couragiertes Verhalten. Die Judenretter waren nach eigenem Bekenntnis keineswegs immer couragiert und hilfsbereit. Die Stärke, ihrer Überzeugung entsprechend zu handeln, hatten sie, wenn sie in einer Gruppe verankert waren, in der man sich gegenseitig gestützt und mutiges Verhalten gewürdigt hat.

Die bereits angesprochenen geschlechtsspezifischen Unterschiede zeigen sich in abgeschwächter Form bei Zivilcourage und aktiver Nothilfe. Hier dominieren Frauen. Auf die umstrittenen Thesen, die dazu von der biologisch-genetischen Forschung angeboten werden, kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Unstreitig ist, dass es geschlechtsspezifische Sozialisationseinflüsse gibt.

- Nach wie vor werden primär Jungen dazu angehalten, Tränen herunter zu schlucken, Gefühle zu unterdrücken und nach außen cool aufzutreten. Die Vermutung liegt nahe, dass dies bei den Jungen dazu beiträgt, sich nicht nur gegen eigene Gefühle einen Panzer zuzulegen, sondern auch gegenüber dem Leiden anderer Menschen.

- Im Rahmen einer repräsentativen Jugendstudie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen wurden Jungen wie Mädchen dazu befragt, wie ihr Umfeld wohl reagiert, wenn bekannt würde, dass sie auf dem Schulhof jemanden zusammengeschlagen hätten. Fast alle Mädchen rechnen damit, von Eltern getadelt und von Gleichaltrigen abgelehnt zu werden. Von den Jungen dagegen erwartet jeder fünfte zumindest vom Vater Akzeptanz oder Lob; weniger als die Hälfte rechnen mit Kritik und erwartet von Freunden überwiegend Zustimmung.

- Für die Tagträume von Jungen wie Mädchen spielen Film-Idole eine wichtige Rolle. Aber das Rollenangebot fällt extrem unterschiedlich aus. Den Jungen treten ganz überwiegend Macho-Helden gegenüber, die sich im rücksichtslosen Kampf bewähren. Gegenbeispiele wie etwa der preisgekrönte Gandhi-Film sind selten und werden zudem von den Jugendlichen wenig angenommen. Für die Mädchen dagegen gibt es nur wenig Identifikationsmuster, die gewalttätiges Verhalten in den Vordergrund stellen. Viele Jungen, die sich mit Film-Machos stark identifizieren, entfernen sich weit von der Alltagsrealität in Schule, Ausbildung und am Arbeitsplatz. Denn dort sind neuerdings Teamfähigkeit, kommunikative Kompetenz und emotionale Offenheit gefragt. Das schafft bei den jungen Machos Verunsicherung und Frust.

Die Konsequenzen, die sich aus den dargestellten Forschungsbefunden zur Gewaltprävention ableiten lassen, können hier nur stichwortartig und beispielhaft genannt werden. Die Ansatzpunkte liegen auf der Hand: Die Leistungskraft und Erziehungskompetenz von Familien muss gestärkt werden. An Kindergärten anzugliedernde Elternschulen müssen dazu die Lust zur gewaltfreien Erziehung vermitteln. Schulen dürfen nicht nur Wissen vermitteln, sondern müssen soziales Lernen ermöglichen. Schulen müssen mit externen Fachleuten zusammen arbeiten. Diese können innerfamiliäre Gewalt früher erkennen und sollten den Kindern ihre Hilfe anbieten und strikte Verschwiegenheit zusichern. Wirtschaftsunternehmen müssen privaten Medien zur Auflage machen, ihre Werbung nicht mehr in Gewalt verherrlichenden Filmen zu platzieren. Hersteller jugendgefährdender PC-Spiele und Filme müssen bestraft werden. Die Altersgrenze für den Waffenbesitz muss heraufgesetzt werden.

Eines müssen wir uns klar machen: Derartige Maßnahmen sind überwiegend auf Langzeit-Wirkung angelegt. Angesichts des komplexen Ursachen-Geflechts kann das Risiko von Amokläufen nur begrenzt verringert werden. Die Erwartung erscheint allerdings begründet, dass das dargestellte Präventionskonzept jede Form der Gewaltkriminalität deutlich reduzieren kann.



--
Diese Liste wird vom Computer Communications Club (http://www.ccc.at) betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im Nachrichtentext.