SZ 04 05 02
Kinder und Konflikte–Lektionen an einer Hamburger Gesamtschule: „Das Klima ist anders hier“
Sieben Gebote gegen den großen Knall
Klassenrat, Streitschlichter, Runde Tische–warum sich Lehrer und Schüler in Mümmelmannsberg um mehr als nur kaputte Treppengeländer kümmern
Von Reymer Klüver
Hamburg , 3. Mai–Die Sache mit der Treppe ist eine Kleinigkeit, gewiss. Ein Stück Treppengeländer, das freundlich und frisch gestrichen ist, so grell orange und leuchtend blau wie die Farben, die den Bau dahinter vom Waschbetoneinerlei der Umgebung abheben–eigentlich nicht weiter der Rede wert. Und dass die Stufen sauber gekehrt sind, dass nicht noch der Splitt aus den Wintertagen herumliegt wie ein paar Meter weiter auf dem öffentlichen Weg, auch das ist für sich gesehen zweifellos nebensächlich. Doch manchmal stehen eben Kleinigkeiten für das große Ganze. Und so kann es schon sein, dass die Treppe, die von der Gesamtschule Mümmelmannsberg zum erbärmlichen Einkaufszentrum der gleichnamigen Hamburger Trabantensiedlung führt, wirklich etwas damit zu tun hat, wie Kinder mit Konflikten umgehen und mit den Enttäuschungen und Niederlagen fertig werden, die der Schulalltag für jeden, und zumal für die schwächeren Schüler, bereit hält.
Verunsicherung ist wohl nur ein mattes Wort für den Zustand, der an deutschen Schulen herrscht, seitdem vor einer Woche in Erfurt ein Junge an seinem ehemaligen Gymnasium zum kaltblütigen Killer geworden ist. Weil ein Rauswurf aus der Schule, wie er Routine zu sein scheint, offenbar der Anlass war für die Bluttat, weil es, so gesehen, überall wieder geschehen könnte. Und doch wagt der Leiter dieser Hamburger Gesamtschule in einem Elternbrief zu schreiben, dass „eine solche Tat an unserer Schule unvorstellbar“ sei. Nun sagt aber Klaus Reinsch, der in den zwanzig Jahren als Direktor grau geworden ist, „vor Durchgeknallten kann man sich nicht schützen.“ Dennoch behauptet er, dass es an seiner Schule „wesentlich friedlicher“ zugehe als anderswo. (...)
Drei Hilferufe
Tatsächlich liegen die Nerven in diesen Tagen blank. Im Hamburger Stadtteil Bergedorf hat ein Polizeikommando die elterliche Wohnung eines Jugendlichen durchsucht, nachdem dieser in der Schule gebrüllt hatte, dass er nun alle abknallen werde, die ihm quer gekommen waren. Im friesischen Varel steht ein Gymnasium unter Polizeischutz, die Schüler werden beim Betreten des Gebäudes auf Waffen abgetastet, seitdem ein Irrer dem stellvertretenden Direktor einen Brief geschrieben hatte: „Lieber Herr Friedrich“, stand darin, „ich werde meinem Leben ein Ende setzen. Doch ich werde nicht alleine gehen, sondern viele Schülerinnen und Schüler mit in den tragischen Tod nehmen.“ Der Brief war einen Tag vor dem Schul-Massaker von Erfurt eingegangen, was die Behörden die Sache nicht gerade leichter nehmen ließ. Das sind nur zwei Beispiele für die Verstörung, für die geradezu panische Angst, die an deutschen Schulen Einzug gehalten hat, bei Schülern, bei Lehrern, bei Eltern. Es wird inzwischen Dutzende vergleichbarer Fälle gegeben haben, von denen die Öffentlichkeit nichts erfährt, damit die allgemeine Verunsicherung nicht noch weiter um sich greift.
Christian Böhm ist Psychologe an der Beratungsstelle für Gewaltprävention in der Hamburger Schulbehörde. Er erzählt von allein drei Hilferufen von Lehrern, die ihn unmittelbar nach dem Schreckenswochenende erreicht haben, weil die Gewalt an ihren Schulen sie nun zu überwältigen scheint. „Angesichts der Ereignisse in Erfurt“, schreibt einer der Lehrer, „halten wir die Situation für unerträglich und sind fassungslos, dass wir gänzlich allein da stehen. Wir haben keine Vorstellung, wie wir das bewältigen sollen.“ Dieses Ohnmachtsgefühl und die damit verbundene Angst, prophezeit Böhm, werden sich in den kommenden Wochen noch verstärken, wenn sich nach dem ersten Schock die Erkenntnis breit macht, dass bisher eigentlich schrecklich wenig Mechanismen an den Schulen trainiert wurden, Konflikte zu entschärfen und Frustrationen der Schüler zu beherrschen. Mehrere Schulleiter haben sich am Montag und Dienstag dieser Woche schon bei ihm gemeldet und um Rat gebeten, weil sie in den kommenden Tagen Lehrerkonferenzen einberufen wollen, um über Konsequenzen aus dem Amoklauf zu reden. Die Beklemmung also wird noch zunehmen an deutschen Schulen.
Manche Lehrer, sagt Böhm, und er arbeitet nun im fünften Jahr in der Beratungsstelle, „sind inzwischen an der Grenze ihrer Überlebensstrategie angelangt.“ Allerdings unterscheidet der Psychologe genau zwischen einem „durchgeknallten Typen“ wie dem Todesschützen von Erfurt und einem „permanent Auffälligen, dem so genannten Intensivtäter“, über den zum Beispiel der Briefschreiber klagt: „Das sind zwei Typen von Gewalt, die völlig unterschiedlich sind und die auch völlig verschieden bearbeitet werden müssen. “ Und wie? Dem einen, dem jugendlichen Intensivtäter, begegnet der 40-jährige Psychologe, der eher wenig Verständnis für die verständnisheischende Sozialpädagogik nach 1968 hat, durchaus konfrontativ: „Ich kann ihm sagen, wie er aus seiner Situation vielleicht heraus kommt, aber da muss er mir zeigen, was er einbringen will.“
(...)
So also könnte es gehen, und die Talkshows sind voll von Politikern und anderen Experten für Menschenführung, die solche Projekte jetzt lobpreisen und Bekenntnisse ablegen zum ganzheitlichen Erziehungsauftrag der Schulen, die hervorheben, wie wichtig die soziale und psychologische Betreuung der Schüler sei. Doch die Wirklichkeit sieht ein bisschen anders aus. In Hamburg freut sich der Psychologe Böhm schon über die neue Aufmerksamkeit, der Schulsenator und sein Staatsrat haben zu Wochenbeginn kurz hintereinander angerufen. Was den guten Mann dann doch ein wenig beschäftigt, denn die Behördenleitung hatte sich bisher, seitdem sie im November ins Amt kam, nicht ein einziges Mal für diese Seite der Alltagsbewältigung an den Schulen interessiert.
Der Schulleiter Reinsch in Mümmelmannsberg hat zusehen müssen, wie die Behörde seine Abteilung „Beratung“ in den letzten Jahren Stück um Stück dezimiert hat: Die eigene Schulpsychologin wurde ebenso abgezogen wie ein Sozialpädagoge, statt wie bisher 40 Wochenstunden für Beratungslehrer werden der Schule noch 18 zugestanden. Und nun, in den Tagen nach Erfurt, muss er den Eltern schreiben, dass die Schule ihr Angebot weiter einschränken wird: „Der Senat plant genau die Stunden zu kürzen, die der Sozialerziehung dienen.“
Manchmal sind es auch die Kleinigkeiten, die einen großen Knall hervorrufen.
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