Die ZEIT 19/2002
http://www.zeit.de/2002/19/Wissen/200219_schule.html
S C H U L E
Zwischen Erfurt und Pisa (1)
Der Thüringer Amoklauf ist ein Einzelfall - und stellt dennoch das selektive Schulsystem infrage
Von Sabine Etzold, Reinhard Kahl, Ulrich Schnabel, Martin Spiewak & Astrid Viciano
Auch das Entsetzen hat eine Halbwertszeit. Woran in Erfurt derzeit niemand zu denken wagt, hat Dietmar Liesch selbst schmerzhaft erlebt. Nur zu gut erinnert sich der Schulleiter des Franziskaneums in Meißen an jenen 9. November, als dort ein 15-jähriger Schüler eine Lehrerin ermordete. Mitten im Unterricht hatte der Täter den Klassenraum betreten und seine Geschichtslehrerin erstochen. Die Mitschüler saßen geschockt in der Bank. Die Lehrerin verblutete in den Armen des Schulleiters.
Auch damals ging ein Aufschrei des Entsetzens durch das Land, auch damals brach eine heftige Diskussion über Schulsicherheit und dringend zu ziehende Konsequenzen los. Langfristig geändert hat sich kaum etwas. Zwar wurde dem Franziskaneum zunächst großzügig Geld für ein intensives Sozialprogramm bewilligt. Schulleiter Liesch richtete Klassenlehrerstunden ein, in denen nicht gepaukt, sondern miteinander gesprochen wurde. Und zwei junge Streetworker mischten sich auf dem Pausenhof unter die Schüler, um Streitereien zu schlichten und Probleme zu lösen. Doch nach wenigen Monatenstrich der Landkreis kurzerhand die finanzielle Unterstützung. "Dabei können die Lehrer allein eine psychologische Betreuung ihrer Klassen nicht leisten", sagt Liesch, leicht resigniert.
Ähnliche Erfahrungen hat auch Wolfgang Melzer gemacht. Der Schulforscher von der TU Dresden, der schon 1998 eine Studie über Gewalt als soziales Problem in Schulen vorgestellt hatte, wurde nach der Bluttat von Meißen plötzlich zum gefragten Experten. Politiker suchten nach Antworten, und Melzer erhielt den Auftrag zu einer Folgestudie, um "Ansätze zur Gewaltprävention" zu untersuchen und Vorschläge zu einer "Qualitätsentwicklung der Schule" zu machen. Im vergangenen Dezember kam für Melzer das Aus. Mit Verweis auf die Pisa-Studie erhielt er ein Schreiben des sächsischen Kultusministeriums, sich doch bitte künftig auf Pisa-relevante Themenbereiche wie etwa die Leseförderung in Grundschulen zu konzentrieren.
"Seit der Pisa-Studie reden alle nur noch über Leistung", empört sich der Dresdner Erziehungswissenschaftler Wolfgang Melzer. "Und die Kultusministerien starren wie das Kaninchen auf die Schlange auf den 30. Juni, wenn die Daten der nationalen Pisa-Vergleichsstudie veröffentlicht werden." Der Schulforscher befürchtet schon jetzt, dass dann die ganzen Diskussionen über die Folgen von Erfurt schnell in der Versenkung verschwinden. "Jetzt dürfen sich die sozialen Mahner noch einmal zu Wort melden", kommentiert Melzer bitter, "doch nach dem 30. Juni wird auch dieser Schock bald keine Rolle mehr spielen."
Dabei weist gerade die Pisa-Studie auf den engen Zusammenhang zwischen besseren Schulleistungen und einem sozialverträglichen Schulklima hin. Um beide steht es in Deutschland nicht gut. Sicher, die Taten von Meißen und Erfurt lassen sich nicht als symptomatisch für das deutsche Schulsystem werten. Möglicherweise hätte kein noch so guter Klassenlehrer einen Zugang zu Robert Steinhäuser finden können, hätte kein Schulprogramm ihn von seinen pathologischen Gewaltfantasien heilen können. Und dennoch sagt das Massaker von Erfurt vielleicht mehr über die deutsche Schulwirklichkeit aus, als Lehrer, Politiker und Eltern wahrhaben wollen.
Wie ist es möglich, dass Wut und Verzweiflung des Erfurter Schülers unbemerkt im Verantwortungsloch zwischen Schule, Elternhaus und Freundeskreis wachsen konnten und niemand ein Warnsignal wahrgenommen hat? Wie kann es sein, dass ein Schüler, nachdem er zum zweiten Mal nicht zum Abitur zugelassen wurde, in ein biografisches Nichts fällt?
Die Verhältnisse in Erfurt sind dabei besonders ungünstig: Thüringen ist das einzige von 16 Bundesländern, in dem ein Schulverweis kurz vor dem Abitur den Weg zu einem Schulabschluss überhaupt verbaut. Dort wird - ähnlich wie das Zentralabitur - auch der mittlere Schulabschluss zentral vergeben. "Wer die Oberstufe durchläuft und dann scheitert, steht buchstäblich vor dem Nichts", sagt Andrea Schwermer, Sprecherin der Kultusministerkonferenz (KMK).
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