Die ZEIT 19/2002

http://www.zeit.de/2002/19/Wissen/200219_schule.html

S C H U L E

Zwischen Erfurt und Pisa (2)

Doch zeigt dies ein grundsätzliches Problem des deutschen Schulsystems: Auch in anderen Bundesländern herrscht das Prinzip der Selektion. Schüler werden schon früh nach Leistung sortiert und damit Lebenschancen bereits nach der vierten Klasse festgeschrieben. Die Förderung schwacher Schüler kommt dabei zu kurz. "Es gibt kein anderes Land mit so homogenen Lerngruppen", stellt Pisa-Chef Jürgen Baumert für Deutschland fest, "und trotzdem sind sie uns immer noch zu heterogen." Der Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung legt den Finger auf die vernarbte deutsche Wunde: Wir haben Schwierigkeiten im Umgang mit Unterschieden und Abweichungen. "Im Unterricht", so Jürgen Baumert, "stören immer zwei Sorten von Antworten: die intelligente Antwort und der Fehler." Kindern und Jugendlichen würden häufig ihre Individualität und der durchaus kreative Eigensinn aberkannt.

Außerdem entlässt das selektive deutsche System die Schulen aus der Verantwortung, sich um schwierige, abweichende und eigensinnige Schüler zu kümmern. So werden Einzelne entmutigt, und in den Schulen wird schleichende Verwahrlosung produziert. Diejenigen, die Fehler machen, stigmatisiert das System zu schlechten Schülern. Sie werden vom Gymnasium in die Realschule und von dort in die Hauptschule exportiert - oder fallen wie im Extremfall des Robert Steinhäuser durch alle Raster. So müsste der Fall Erfurt auch Anlass zu grundlegenderem Nachdenken geben: Die deutsche Schule muss anders mit Verlierern und Abweichlern umgehen, die sich nicht nach der Norm verhalten. Und auch das Klima an deutschen Schulen muss sich verändern; unter anderem müssen intensivere Kontakte zwischen Lehrern und Eltern geknüpft werden. Der Berliner Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen bringt das Unbehagen auf den Punkt: "Die Pisa-Studie war ein Anlass über ein anderes Schulverständnis nachzudenken, Erfurt ist ein anderer."

Doch in den ersten Reaktionen nach dem Massaker von Erfurt brachen gleich wieder die ewigen alten deutschen Missverständnisse auf: dass Fordern und Fördern in der Schule Gegensätze sein müssen. Dass internationale Spitzenleistung nur mit strenger nationaler Auslese zu haben ist und der Preis höherer Leistung Drill ist. Zwei Tage nach dem Amoklauf warnte Innenminister Otto Schily davor, dass sich der Druck auf die Schüler durch die Pisa-Studie nun noch erhöhen werde. Doch gerade die Pisa-Studie weist darauf hin, dass Schulleistung eng mit dem Sozialverhalten und nicht zuletzt einem gesunden Selbstwertgefühl von Kindern und Jugendlichen zusammenhängt.

Das zeigt das Beispiel des Pisa-Siegers Finnland. Dort wird nicht nur mehr Geld in Bildung investiert - 7,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes statt 5,5 Prozent hierzulande - ,sondern vor allem mehr Vertrauen in die Kinder. Das Ergebnis ist eine ruhige, konzentrierte Atmosphäre. Kinder niemals zu beschämen und nicht zu gängeln, lautet dort die Grundidee. Respekt ist die Basis von Bildung in Finnland. "Wir brauchen in unserem Land jeden, hoffnungslose Fälle können wir uns nicht leisten", sagt der Präsident des finnischen Zentralamtes für das Unterrichtswesen, Jukka Sarjala.

Sowohl angesichts der Bluttat von Erfurt als auch im Lichte der Pisa-Studie ist also die Diskussion über eine veränderte Schulkultur dringlicher denn je. Dreh- und Angelpunkt für solch ein stimulierendes Schulklima ist dabei die Zusammenarbeit von Lehrern, Eltern und Schülern. Melzer selbst erprobt dies beispielsweise in einem Modellprojekt in der sächsischen Region Kamenz. Dort werden unter anderem Schüler berufsbildender Schulen zu Streitschlichtern ausgebildet. Die Idee: "Die Schüler sollen die Normen der Schulwelt, über die sich alle einig sind, selbst durchsetzen", erklärt Melzer. Ähnliche Ideen verfolgt man am Franziskaneum in Meißen. Dort bilden die Lehrer seit Anfang dieses Jahres Schüler zu Mediatoren aus, die nicht nur unter Gleichaltrigen Konflikte lösen, sondern auch zwischen Jugendlichen und Lehrern vermitteln sollen. Das setzt aber voraus, dass sich Schüler, Lehrer und Eltern zuvor in einem Diskussionsprozess auf allgemein verbindliche Normen geeinigt haben - wovon viele deutsche Schulkollegien weit enfernt sind.

Die Wilhelm-Bracke-Gesamtschule in Braunschweig zeigt, dass es auch anders geht. Dort haben Lehrer, Schüler und Eltern vor fünf Jahren Pflichten und Rechte festgelegt und in einen Vertrag gegossen. Forderungen nach Pünktlichkeit und Ordnung sind darin ebenso festgehalten wie "Offenheit mit anderen Kulturen" und die Erwartung, "die Schule ohne Angst zu betreten". Diese Art Selbstverpflichtung zum zivilen Umgang miteinander soll eine neue Grundlage sein für das Zusammenleben in der Schule, sagt Hartmut Lägel, Mitglied der Schulleitung. Auch für einige Pädagogen seien Sekundärtugenden wie der höfliche Umgang miteinander "gewöhnungsbedürftig" gewesen. Lange Zeit haben sich Lehrer nicht getraut, so etwas zu fordern, so Lägel. Doch heute herrscht ein größerer Konsens darüber, was erlaubt und was verboten ist in der Gesamtschule. "Das macht das Leben in der Schule einfacher." Ein Wundermittel sind solche Schulverträge freilich nicht. Sie sind weder rechtlich bindend, noch können sie Eltern zur Mitarbeit zwingen. Doch sind solche Projekte immerhin ein Anfang, um eine "Kultur des Hinschauens" zu schaffen, die Erziehungswissenschaftler wie der Berliner Dieter Lenzen fordern. Um das Sozialklima an deutschen Schulen allerdings nachhaltig zu verbessern, wären größere Veränderungen notwendig. Der deutsche Schulalltag mit seinem halbtägigen Unterrichtsstakkato und starren Lehrplänen bietet kaum Raum für Gespräche zwischen Lehrern und Schülern. Und im üblichen Frontalunterricht - einer gegen 28 - können Lehrer individuelle Lernprobleme oder Verhaltensauffälligkeiten nur schwer entdecken.

Pathologische Einzelfälle wie in Erfurt oder Meißen werden sich dadurch zwar nie ausschließen lassen. Doch dies darf kein Argument sein, um nicht alles zu tun, um solche Taten in Zukunft so unwahrscheinlich wie möglich zu machen.



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